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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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waren. Der Keller wie ein erobertes Gebiet, ein arider Landstrich. Dorthin schickte er eine Frau ins Exil, auf dass sie dort ein Volk säe, dessen Ahnherr er wäre. Ein unbekanntes Land, dessen Karte nur er allein besaß. Ein verborgenes, geschlossenes Land ohne Himmel, ohne Weite im Blick, mit schnurgeradem Horizont, jämmerlichen Gestirnen an Schnüren, die die Einheimischen direkt ansehen können, ohne sich die Pupillen zu verbrennen.
    Zwei Schritte, dann ist Fritzl im Schlafzimmer. Sie hält den leeren Teller in der Hand. Ihre Augen sind niedergeschlagen, gerade einen Spalt offen. Der Blick wagt sich kaum zu heben und der Gefahr entgegenzusehen. Das jetzt breitere Lächeln des Vaters, ein stilles Lachen, so verunsichernd wie ein Schrei, dessen Grund sie nicht kennt.
    ,,Du weißt doch, dass keine Frau unersetzlich ist. Die Burschen haben gern mal Abwechslung – neues Motorrad, neue Braut. Ich glaube, er hat auch die Arbeitsstelle gewechselt. Ich habe ihn schon lange nicht mehr mit seinem Tablett und seinem Korkenzieher im Biergarten des Wirtshauses den Clown spielen sehen.“
    Gerade hat sie den Schlag eingesteckt, nun ein Bluterguss, ein blauer Fleck in ihrem Inneren, Kummer. Ihr Stolz, mit dem Weinen zu warten, bis ihr Vater wieder gegangen wäre. Sie würde ihm die Befriedigung nicht gönnen, ihre Tränen zu sehen.
    ,,Bald wird nur noch dein Vater an dich denken. Aber wenn du dich weiter aufführst wie ein verwöhntes Kind, wirst du auch für mich schnell zu einer schlechten Erinnerung. Und schlechte Erinnerungen vergisst man so schnell wie nur möglich.“
    Er setzt sich neben sie. Seine fummelnde Hand auf ihrer Brust, zwischen ihren Schenkeln, die sie nicht zusammenzupressen wagt. Ein orangerotes Kleid, das nach der Niederkunft an ihrem zusammengefallenen Körper flattert. Er legt sich hin, Kopf auf dem Polster wie ein Schmuckstück auf dem kleinen Kissen eines Etuis.
    ,,Zieh mir die Schuhe aus.“
    Sie gehorcht.
    ,,Zieh mich aus.“
    In solchen Momenten macht er sich steif wie ein Leichnam. Mit der Zeit wurde sie darin so geschickt wie eine Thanatopraktikerin. Hose und Jacke hängt sie auf einen Kleiderbügel, den er anbrachte, damit er den Keller wieder makellos verlassen kann. Die Socken werden über Hemd und Unterhose gelegt. Die Kleider sind so sorgfältig gefaltet, als wollte sie diese einem Bedürftigen schenken.
    ,,Komm!“
    Sie steigt aus ihrem Kleid, geht nackt zu ihm.
    Hass auf das, was sie geworden ist, wenn die Lust sie überkommt.
    Am Morgen bat sie ihn um eine Babywaage.
    ,,Für die paar Tage lohnt sich das nicht mehr.“
    Sie wiederholte ihre Bitte nicht. Sie spürte ja genau, dass Petra wuchs. Angelika hielt sie an den ausgestreckten Armen hoch, wenn sie meinte, dass ihre Tochter schwerer geworden war. Trotz der fehlenden UV-Strahlen war sie nicht so blass. Langsam würde sie ihr rosiges Aussehen verlieren, die Vitamine im Muttermilchersatz könnten daran nichts ändern.
    ,,Ich hole sie am Montag.“
    Er schloss die Tür. Angelika ging schnell zu der Holzkiste, die der Kleinen als Wiege diente. Sie nahm das Kind, hob es hoch, drückte es an sich.
    Damals gab es unten kein Fernsehen, das ihr mitteilte, dass ein Tag vergangen war und ein anderer begann. Anderswo verstrichen die Stunden, doch im Keller gab es keine Zeit. So sehr Angelika auch suchte – sie fragte die Glühbirnen, spähte und äugte, versuchte ein Deckenbrett zu lösen –, sie fand weder Tag noch Nacht. Nur die Geräusche konnten ihr Auskunft geben, aber manchmal fuhr tagsüber kein Auto durch die Straße und das Haus war leer. Stille Zeitabschnitte, deren Dauer sie nicht messen konnte. Sie hätte Sekunden wie Schafe zählen können, aber das hat sie nie versucht.
    Sie fragte sich, ob der Montag noch fern sei. Aus dem Wäschebündel, das er vor Petras Geburt heruntergebracht hatte, zog sie ein altes Tischtuch. Sie schaffte es nicht, ihr Baby in das Tuch zu wickeln, wie es Afrikanerinnen tun.
    Sie hätte Petra gern an sich gespürt, sie an sich befestigt, damit sie das Gefühl hatte, sie nie mehr zu verlassen, bevor sie ihr wieder genommen werden würde. Vielleicht vergeht die Zeit in Abgeschiedenheit langsamer. Ein ferner Montag, ein Montag, den sie kraft ihres Willens hinauszögern könnte. Ein Montag, der übersprungen werden würde, ein kleines Loch im Kalender.
    Sie schlief mit Petra im Bett. Sie versuchte nur zu dösen, nicht in einen Traum zu gleiten, einen Albtraum, bei dem sie aus dem Bett fallen und Petra unter ihrem

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