Claustria (German Edition)
nähern, und bückte sich, um sie besser zu sehen.
Sie beugt sich vor und nimmt das Kind auf den Arm. Es ist kein Bild – Petra hat ein Gewicht, einen Geruch. Angelika durchfährt ein Stich des Glücks. Gerade hat sie die Zukunft wieder zurückbekommen.
Sie wird Petra gleich wickeln, die schmutzige Windel waschen, sie lange kochen und dann über die Badewanne hängen. Es gibt fast nichts zu essen. Sie fühlt sich schuldig, weil sie das Ei gegessen hat. Sie füttert ihre Tochter wie einen Vogel mit Brosamen, die sie in Wasser tunkt.
Fritzl lässt ganze Tage verstreichen. Die Ernährung wird zum unlösbaren Problem im Keller. Angelika gibt ihrer Tochter die Brust, um deren Hunger zu überlisten. Das Kind beruhigt sich, die Quelle ist noch nicht ganz versiegt.
Als Fritzl wiederkommt, bringt er Muttermilchersatz, eine Großpackung Windeln, zwei Fläschchen sowie Fleisch, Kartoffeln, Eier, Mehl, Zucker und Schweineschmalz.
,,Mach das Abendessen, bevor du dich um sie kümmerst. Kinder sind keine Könige.“
Petra ist vom Lärm der Stahlbetontür aufgewacht, die Fritzl hinter sich zugeschlagen hatte. Das Gejammer und Geschrei kann der guten Laune des Opa-Papas nichts anhaben.
,,Du kochst wirklich besser als deine Mutter. Anneliese ist eine Drecksau, ich konnte noch nie etwas mit ihr anfangen.“
Angelika widerspricht nicht. Sie erhitzt Schmalz im großen Topf, schält Kartoffeln, schneidet sie mühsam mit dem Plastikmesser, gibt die Schweinefleischstücke ins brutzelnde Fett und mischt die Zutaten für einen Kuchenteig.
Fünfundzwanzig Minuten später sitzt Fritzl zu Tisch. Er nimmt große Bissen, kaum gekaut, zu sich. Immer wenn er schluckt, rollt eine flüchtige Kugel seinen Hals hinab. Der Kuchen bäckt im Ofen, Angelika hat den Haushaltswecker eingestellt, den er ihr gebracht hatte, nachdem sie einmal das Abendessen, Hühnchen, hatte anbrennen lassen.
Angelika befolgte die Anweisungen auf den Milchpackungen ganz genau. Petra weinte, als sie ausgetrunken hatte. Ihr Organismus erinnerte sich noch an den Hunger – er wollte Speicher anlegen. Angelika bereitete Petra gerade ein zweites Fläschchen zu.
,,Was machst du denn da?“
,,Sie hat noch Hunger.“
,,Du bringst sie ja um, wenn du sie so mästest.“
Gesättigt schlief Petra aber dann auch ein.
,,Komm, setz dich und iss, anstatt blöd rumzustehen!“
Angelika füllte ihren Teller. Sie unterdrückte das Bedürfnis, den Topf zu packen, den Inhalt nacheinander in ihren Mund zu schütten und alles hinunterzuschlucken wie eine Flüssigkeit. Sie gab sich Mühe, ihr Fleisch ohne Hast zu schneiden, langsam zu essen, Bissen auf die Gabel zu spießen und an den Mund zu führen wie eine Dame von Welt, die einen Teller Sauerkraut verdrückt hatte, bevor sie aus dem Haus gegangen war, um bei der Cocktailparty nicht gierig zu wirken. Sie wollte Fritzl ihre Demütigung nicht zeigen – dass sie von ihm abhängig war, wenn sie nicht verhungern wollte.
,,Ich bin dein Vater und Ernährer.“
Ein dünnes Lächeln unter dem Schnauzbart, dessen Haare wieder zu zittern begannen, als er auf der Kartoffel weiterkaute, die er sich in den Mund geschoben hatte, bevor er angefangen hatte, zu reden.
,,Ach, deine Schwester hat übrigens kürzlich deinen Thomas auf einem neuen Motorrad gesehen, einem knallroten, hinten saß eine kleine Rothaarige, die sich an ihn klammerte, als sei er ihre letzte Rettung.“
,,Das ist nicht wahr!“
Angelika steht auf und trägt ihren Teller ins Schlafzimmer. Da er sie nicht sehen kann, darf sie das Essen hinunterschlingen. Seit ihrer Jugend hat sie die Angewohnheit, vom Tisch aufzustehen und ihre Portion mit in ihr Zimmer zu nehmen. Anneliese war ihr über den Gang gefolgt. Wenn Angelika nicht mehr dazu kam, ihr Bett vor die Tür zu schieben, verlor sie unter den Schlägen der Mutter das Gleichgewicht, der Teller fiel zu Boden und zerbrach. Anneliese packte sie an den Haaren, drückte ihren Kopf hinunter und zwang sie, das verschüttete Essen aufzuschlabbern. Angelika wehrte sich immer, trat ihre Mutter sogar gegen das Schienbein und flüchtete ins Treppenhaus. Nur um dann vom Vater eingefangen und zusammengeschlagen zu werden.
Sie hörte Fritzl nach jedem Bissen schmatzen, hörte sein Glas an den Teller schlagen. Sie sah ihn durch die Wand lächeln, diese ewige Grimasse, die in sein Gesicht eingraviert zu sein schien und nur bei seinen Wutanfällen splitterte.
Das Lächeln eines Monarchen, eines Potentaten, dessen Familien sein Reich
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