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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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noch am Abend von Sophies Entführung an sich herangelassen. Hass auf diesen Kinderdieb, der sich ihres Körpers bediente, damit er ihr ein weiteres Kind machte, das er dann auch wieder wegnehmen würde.
    Geburt in Einsamkeit. Angst, zu sehen, wie der Vater ihr die Leibesfrucht stahl. Petra war fünf Jahre alt, sie krabbelte um das Bett herum und schrie unisono mit ihrer Mutter, als würde auch sie ihre Schwester zur Welt bringen. Martin hatte sich vor die Stahlbetontür gelegt, mit dem Kopf in den Händen stöhnte er wie ein verirrtes Tier.
    Fritzl kam drei Tage später. Petra und Martin schienen besänftigt zu sein. Sie lagen zu beiden Seiten ihrer Mutter im Bett, die Sabine im Arm hielt. Daumenlutschend betrachteten sie das Baby.
    Fritzl schmierte Angelika eine.
    ,,Das ganze Haus hat dich bei der Geburt gehört, und jetzt schreit Tag und Nacht das Kind!“
    Sie antwortete nicht, drückte das Kind an ihre Brust. Sie versuchte es zu stillen, so lange sie konnte, es hörte nur auf zu weinen, wenn sie ihm die Brustwarze in den Mund schob.
    Fritzl kraulte den Kopf des Kindes.
    ,,Was ist es?“
    ,,Ein Mädchen.“
    ,,Es hat dichtes Haar.“
    Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, kam schnuppernd zurück.
    ,,Hier riecht es nach Muttermilch.“
    Er trat näher, legte seine Pranke auf den kleinen Kopf.
    ,,Sie bekommt wohl einen runden Schädel.“
    ,,Vielleicht.“
    ,,Gib sie mir.“
    Die Kleine fing an zu jammern, als Angelika sie von ihrer Brust löste und sie dem Vater reichte. Mit angeekelter Miene gab er sie ihr gleich wieder zurück.
    ,,Die ist ja nass!“
    ,,Ich versuche, mit Handtüchern zurechtzukommen, aber Windeln wären besser.“
    ,,Du bist nicht sparsam.“
    Das Mädchen schrie. Angelika drückte es zwar an ihren Busen, aber es verweigerte die vom vielen Stillen versiegte Brust.
    ,,Wir müssen ihr auch noch einen Namen geben. Welchen?“
    Angelika sah ihn verwundert an.
    ,,Einen Namen?“
    Die Kinder nannten die Kleine „Baby“. Vor der Geburt hatte sie ihr viele Namen gegeben. Bubennamen, Mädchennamen, Namen von Menschen, die sie oben getroffen hatte, erfundene Namen. Silben, die aneinanderklebten wie kleine Liebende, unendliche Vornamen, in die sie manchmal auch die Worte Wald, Himmel, Meer, Sonne, Sommer hineinstopfte. Und den Namen einer Boutique in Amstetten, deren Schaufenster sie in ihrer Jugend immer angesehen und davon geträumt hatte, eines Tages all diese Kleider zu tragen, von denen sie sich vorstellte, dass ein Trupp Lehrlinge in einem Palais an den Champs-Élysées sie genäht hätte.
    Sie änderte die Namen jeden Tag, wie um sich einbilden zu können, es wären mehrere Kinder. Eine riesige Familie, unvermittelt aufgetaucht wie ein Geschenk des Himmels. Trotz der Enge vergrößerten sich mit jedem Kind ihre Aussichten, es verlieh dem Raum Tiefe und lud die Zukunft in diesen Keller ein, in dem die Zeit begraben war. Wenn das Kind geboren war, gehörte es ihr noch mehr. Es wurde zur Sicherheit, zur konkreten Hoffnung. Wenn sie dem Kind einen Namen gab, würde sie es in einem Sack aus Buchstaben erstarren lassen.
    ,,Sie braucht einen Namen wie die anderen auch. Selbst ein Möbelstück heißt Tisch oder Sessel.“
    Zum ersten Mal sah es so aus, als würde Fritzl ihr die Wahl lassen.
    ,,Und?“
    ,,Blume.“
    Blume, ein unspezifischer Name, eine Knospe, eine weiße, rote, blaue Blume, eine Rose, eine Margerite, eine Tulpe oder eine geheimnisvolle Orchidee aus dem Gewächshaus.
    ,,Nein, sie heißt Sabine.“
    ,,Sabine?“
    Ein verbreiteter Name in Österreich, das Schicksal des Mädchens schien Angelika darin eingeschlossen zu sein. Abgesehen davon musste man einander im Keller nicht rufen. Es gab nicht genügend Platz, man war immer beieinander, immer da. Vierzehn Jahre später würden die befreiten Kinder lange brauchen, um auf ihre Namen zu reagieren.
    Fritzl hatte seinen Terminkalender herausgezogen, als hätte er Angst, den Namen zu vergessen.
    ,,Sabine Fritzl. Man weiß ja nie – vielleicht muss ich sie eines Tages auf dem Standesamt anmelden.“
    Ein leises Lachen, und er verließ den Keller ohne Abschiedsgruß.

Ende Dezember schaffte Fritzl ein Tonband hinunter. Angelika weigerte sich, ins Mikro zu sprechen. Am Ende las sie dann doch den handschriftlichen Text – mit aufgesprungener Lippe, mit der sie ihren Widerstand bezahlt hatte.
    „‚Ich habe meine Tochter vor die Tür gelegt. Sie heißt Sabine. Ich bitte euch, sie an meiner Stelle aufzuziehen. In der Sekte, in der ich lebe,

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