Claustria (German Edition)
ein. Angelika sieht Petra nicht, sie legt ihr die Hand aufs Gesicht, um sich ihrer zu vergewissern.
Der Seelenfrieden einer Mutter, deren Kind schläft. Sie spült das Fläschchen aus, gibt einen Tropfen Chlorbleiche hinein und stellt sich vor, die Wirkstoffe würden die Bakterien mit der Waffe in der Hand ausrotten.
Kurzes Auskehren, die Wasserspülung drücken, dann legt sie sich hin. Sie glaubt nicht mehr an Montag. Ängste lassen nach, wenn sie zu lange andauern.
Und dieser Montag kam auch nie. Die Dunkelheit hielt eine ganze Woche an. Angelika aß fast nichts mehr, sie sparte Milch, der Inhalt der Fläschchen wurde immer wässriger. Sterbensangst, der Trost, zu zweit zu sterben. Ihre Tochter mitzunehmen, sie nicht zu verlassen, sie nicht allein einer Zukunft als Waisenkind zu überlassen.
Sie hatte überhaupt keine Angst mehr. Es wäre ein natürlicher, sanfter Tod, das Leben würde sich langsam zurückziehen, Angelika würde es zulassen. Sie würde nicht an die Rohre klopfen, sie wollte nicht sehen, wie Fritzl zurückkäme und ihr die Tochter wegnähme. Sie wollte nicht mehr allein sein, sie würde jene mit sich nehmen, die sie hierhergebracht hatte.
Das Licht kam wieder. Draußen war Morgen, der Tag war noch ein wenig grau, aber die Sonne lauerte hinter einer Wolkenbank.
Im Keller bricht der Tag schlagartig an. Der Motor des Kühlschranks weckt Angelika, das Licht blendet sie, als sie die Augen aufschlägt. Sie hört Fritzls Schritte, steht auf. Das Licht verwirrt sie, sie fällt. Sie steht wieder auf und stürzt neben die Wiege.
Fritzl ist beladen. Sie hört, wie er einen Karton auf den Küchenboden stellt. Das Geräusch aneinanderstoßender Behältnisse. Sie drückt Petra schon an sich. Sie kauert sich in eine Zimmerecke, rechts und links schützt sie je eine Wand. Sollte er sich nähern, würde sie Feuer spucken. Er würde den Rückzug antreten, die Flucht ergreifen und vielleicht vergessen, die Türen zu schließen. Sie würde an die Erdoberfläche steigen und ziellos durch die Straßen laufen.
Sollte er aber gehen und die Türen wieder versperren, würde sie nicht einmal weinen, bevor sie sterben würde. Sie würde in vollen Zügen Stolz und Mut atmen sowie die Würde der Hingerichteten, die die Soldaten des Erschießungskommandos, das auf sie zielt, fest anblicken.
Fritzl stellte die Lebensmittel auf den Tisch. Mit dem Taschenmesser zerschnitt er den Karton und stopfte die vierfach gefalteten Stücke in einen Müllsack. Er setzte Wasser auf, kochte sich Tee. Am Tisch knabberte er zwischen zwei Schlucken an einem Keks. Er zog die Zeitung aus der Tasche, las einen Artikel über einen bewaffneten Banküberfall in einem Kaff, in dem er noch nie gewesen war.
Automatisch zog er die Schuhe aus. Ein Mann, der nach Hause kommt, es sich bequem macht, in seinen zu heißen Tee bläst und seiner Frau gleich den Bürotratsch erzählen wird.
Zwischen zwei schönen Wochenenden hatte er eine wundervolle Woche. Ein deutsches Unternehmen hatte ihn kontaktiert und ihm ein astronomisches Monatsgehalt angeboten, um ihn als technischen Leiter für den Firmensitz in Berlin zu gewinnen. Fritzl hatte einen Umzug ins Ausland abgelehnt, er würde lediglich als freier Berater arbeiten und sich sein Einkommen sichern, ohne mehr als ein Mal im Monat reisen zu müssen. Er war auf dem Gipfel seiner Karriere angelangt. Er konnte die Verwirklichung seines Traums in Angriff nehmen und kleine Teile von Österreich kaufen, indem er in Immobilien investierte.
Am ersten Wochenende war er zweimal im Puff. Es gab neue Mädchen, eines war erst achtzehn. Am zweiten Wochenende fuhr er allein nach Paris und wohnte wenige Schritte von der Seine entfernt in einem kleinen Hotel in der Rue Gît-le-Cœur.
Abends aß er allein im Restaurant des Eiffelturms, dann machte er einen Abstecher in die Rue Saint-Denis, wo er in der Kabine einer Peepshow vor Mädchen fantasieren konnte, die, verborgen hinter einer Einwegscheibe, den Kunden das Spektakel ihres Körpers darboten. Eine Massage in einem schmuddeligen Etablissement im Chinesenviertel, ein Festessen im Traditionslokal Au pied de cochon inmitten von amerikanischen Touristen, die eingeschüchtert vor ihren Tellern mit Kutteln, Gänsestopfleber und anderen merkwürdigen Gerichten saßen, die in ihrer Heimat damals noch unbekannt waren.
Vor seinem Aufbruch nach Paris hatte Fritzl den Strom abgestellt, um den Keller zum Schweigen zu bringen. Trotz seiner ständigen Behauptungen, der Lärm
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