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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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verstrichen. Angelika schmollte nicht. Bei jedem Besuch Fritzls gab sie sich sanft und zuvorkommend wie eine Geisha – aus Angst, er könne auch Petra und Martin mitnehmen und sie allein dort unten halten wie eine Zuchtstute.

Seit Winteranfang 1989 führte Angelika Tagebuch. Ein schäbiges Heft, um das sie Fritzl gebeten und das er ihr schließlich gebracht hatte.
    ,,Wem willst du schreiben?“
    ,,Niemandem.“
    Er stieß sie gegen die Spüle.
    ,,Was willst du dann damit?“
    ,,Ein Haushaltsbuch führen.“
    Eine absurde Antwort, aber sie war ihr als einzige in den Sinn gekommen. Sie wagte nicht, ihm zu sagen, dass sie vorhatte, Buch über die Vergewaltigungen und Misshandlungen zu führen, zur Chronistin der Misere zu werden.
    ,,Mit welchen Rechnungen? Soll ich dich bezahlen wie eine Hure? Um was zu kaufen? Willst du den Ratten ihre Zähne abkaufen?“
    Die Zähne, die er ihr eingeschlagen hatte, hatte sie nach und nach verloren, die anderen folgten. Zähneputzen nützte nichts. Ohne Mineralstoffe bekamen sie nacheinander Karies. Sie brachen bis zur Wurzel in kleinen Stückchen ab, die Kieferknochen entzündeten sich. Sie litt unter Abszessen, Zahnfleischentzündung, Fieber. Sie stand Höllenqualen mit ihrem Zahnfleisch aus. Ein Grauen, wenn sie merkte, dass sie gerade die letzte Schmerztablette geschluckt hatte. Und diese Tür hatte sich seit vier Tagen nicht mehr geöffnet, der Besucher würde eine Woche später mit leeren Händen auftauchen und sie ohrfeigen, weil sie in der letzten Nacht vor Schmerzen so geschrien hatte, dass die ganze Stadt aufgewacht war.
    ,,Den Ratten ihre Zähne abkaufen?“
    Kichernd wiederholte er seinen Scherz noch ein paar Mal.
    Angelika jagte normalerweise die Ratten und fing sie mit bloßen Händen. Als Baby war Petra einmal im Schlaf ins Gesicht gebissen worden. Der Speichel der Ratten ist mit einem Betäubungsstoff versetzt, der die Beute einschläfert, wenn sie ihre Reißzähne hineinschlagen. Die Kleine war nicht aufgewacht. Bis zu ihrem Tod hatte Petra an der rechten Wange zwei Narben. Sie hätten sich in der faltigen Haut der alten Frau verloren, die sie nie geworden ist.
    Angelika bat nie wieder um ein Heft. Dennoch brachte Fritzl ihr eines Tages ein Schulheft, das er aus Christofs Schultasche geklaut hatte, und winzige Farbstifte, die die Kinder von oben angespitzt und angeknabbert hatten.
    ,,Damit kannst du zeichnen und rumkritzeln.“
    Angelika hatte immer Probleme mit dem Schreiben gehabt. Sie war Linkshänderin und Legasthenikerin. Bevor sie einen Fernseher bekam, schrieb sie ein Datum, das sie schätzungsweise richtig fand, in Wahrheit aber nur eingebildet war. Manchmal las sie das ganze Heft wieder durch. Sie verstand nicht, warum der 15. September zweimal nach dem 13. Oktober und dem 1. Januar kam. Die Zeit wie ein Karussell.
    In der Zeitung habe ich Werbung für Badeanzüge gesehen, es muss also mindestens Frühling sein.
    Sie strich durch und schrieb darüber. Sie wollte, dass die Apriltage aufeinanderfolgten und danach der 1. Mai käme. Aber es war noch kalt. Petra hatte Frostbeulen. Angelika verband ihr die Hände mit Tüchern.
    Ich höre nichts mehr von der Straße, es muss geschneit haben, Schnee dämpft die Geräusche.
    Sie kam auf Februar zurück. Anstelle des Tages schrieb sie ein dickes Fragezeichen mit einem Punkt wie ein lachendes Menschengesicht.
    Wenn ich schlafe, muss es Nacht sein, gerade bin ich aufgewacht, es muss also sieben oder neun Uhr am Morgen sein.
    Sie notierte die kleinen Begebenheiten im Keller.
    Während ich den Abwasch gemacht habe, ist das warme Wasser kalt geworden. Ein Glas ist gesprungen. Meine Stimme ist weg, ich glaube, ich rede die ganze Zeit, wenn ich schweige, redet meine Stimme trotzdem weiter. Als er gekommen ist, hat er mir wehgetan, ich habe von einem Schokoladen-Cookie geträumt. Er hat die Glühbirne in der Küche durch eine stärkere ersetzt. Petras Haare kommen mir heller vor, die Spüle war noch nie so weiß. Ich weiß nicht, ob ich Christof im Garten Ball spielen höre. Es gibt keine Autogeräusche mehr, es muss also wirklich Nacht sein, ich werde mich wieder hinlegen. Er hat mich zum 307. Mal vergewaltigt.
    Eine ungenaue Zahl. Bevor sie das Heft bekommen hatte, hatte sie die Zahl oft vergessen. Sie erfand eine und versuchte sich einzureden, dass es die richtige sei.
    Ich habe nichts gespürt, ich glaube, ich bin daran gewöhnt. Martin bekommt Zähne. Ich habe ein Aspirin in Wasser aufgelöst und reibe ihm damit das

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