Claustria (German Edition)
den Boden gerollt. Es heult, sein Kinn blutet. Die Mutter krümmt sich mit schmerzendem Schoß.
,,Auge um Auge.“
Die Tritte wandern bis hinauf zum Bauch.
Die Lebensmittel sind auf dem Boden verstreut, zusammengemanscht, zertreten, mit Spülmittel übergossen. Angelika stöhnt, sie weiß nichts mehr, hat weder Lust zu sterben noch zu leben, kein Licht, kein Tunnel, die Zukunft im Keim erstickt, ausgesetzte Zeit, eine Sackgasse.
Die Schritte entfernen sich. Die Türen schlagen. Dunkelheit senkt sich über den Keller, der Kühlschrank verstummt. Der schlecht zugedrehte Wasserhahn gluckert und kündigt abgestelltes Wasser an.
Zwei Tage lang füllt sie Wasser aus dem Klo in Petras Fläschchen. Ihr Tod durch Dehydrierung ist knapp abgewendet, sie ist von einer Sepsis verschont geblieben. Das Wasser kommt zurück, geht wieder, kommt erneut. Zeitweilig Licht, ein unvorhersehbarer Wimpernschlag, dann wieder Dunkelheit, als hätten die Lampen Lider.
Rückkehr des Monsters. Munter, ausgeruht, frisch geschnittenes Haar, manikürte Nägel, mit Gamsleder poliert. Fleisch, frisches Gemüse, Butter, Milchprodukte, Knäckebrot, Muttermilchersatz, Windeln, eine Packung Babypuder.
Angelika am Herd. Ein köstliches Abendessen, ein gewaltsamer Fick. Das Baby brabbelt, weint, schläft ein. Der Opa-Papa geht wieder. Der Alltagstrott setzt wieder ein. Tage, Nächte, als einzige Uhr Angelikas nicht immer regelmäßiger Zyklus. Trotz allem das Glück einer Mutter, deren Kind sie zum ersten Mal anlächelt, lacht, sich auf allen vieren an die Erkundung des weiten Raumes macht.
Zu Anfang des Sommers war Angelika mit Martin schwanger. Die Schwangerschaft war so unauffällig, dass sie erst am Ende des fünften Monats sicher war. Am 16. Februar 1990 einsame Niederkunft im Keller. Ein blondes Kind, dessen Flaum noch vor seinem ersten Geburtstag tintenschwarz werden sollte.
Ein kleines, winziges Baby, Angelika hatte es leichter herausgepresst als Petra. Die Kleine hatte geweint und geschrien, als sie ihre Mutter in Wehen gesehen hatte. Als Martin zum ersten Mal die Luft der Menschen einatmete und schreiend wieder ausstieß, kroch Petra aus dem Zimmer.
Drei Tage zuvor hatte Fritzl Kühlschrank und Schränke gefüllt. Er fuhr auf Kundenbesuch nach Innsbruck und hängte ein langes Wochenende mit Bergwanderungen an. Einsame Spaziergänge mit Schneeschuhen, Fahrten mit der Seilbahn über Schneefelder, Träumereien von einem Skigebiet im Tiefland: Er würde Berge aus Beton gießen und sie mit einem dicken Teppich überziehen, der rutschig wäre wie nasses Gras.
Jeden Abend ging er in ein Bordell am Hauptbahnhof. Oberhalb der Eisenbahngleise, im Lärm der ein- und ausfahrenden Züge, spielte er Vergewaltigung.
Das Kind war eine Woche alt, als Fritzl wieder in den Keller kam.
,,Sieht aus wie ein Braten.“
Er sagte zu Angelika, dass er ihn auch so nennen würde.
,,Den kannst du essen, wenn die sieben mageren Jahre kommen.“
Schließlich nannte er ihn Martin, so hieß die Autowerkstatt gegenüber dem Rathaus von Amstetten. Später zog ein Bridge-Club dort ein.
,,Schöner Vorname.“
Das fand er wirklich.
,,Klingt vornehmer als ‚Schweinsbraten‘.“
Martin war ein trauriges Kind. Er lachte erst mit vier Monaten. Er trank lustlos, schien sich jedes Mal bitten zu lassen, wenn Angelika ihm die Brust gab, und dankend abzulehnen, bevor er in Versuchung kam.
,,Das Kind hat keinen Appetit.“
,,Es wächst.“
Fritzl zog seinen Zollstock aus der Tasche.
,,Achtundfünfzig Zentimeter, so groß wie ein Ferkel.“
Mit Tränen in den Augen reagierte Angelika lächelnd auf seinen Spott.
,,Ich würde mich nicht mal trauen, ihn deiner Mutter zu bringen, sie würde ja glauben, ihr hungert euch in dieser Sekte zu Tode.“
Martin schrie auch wenig und leise. Anneliese fragte sich sogar, ob ihre Tochter tatsächlich ein zweites Kind geboren hatte.
Mit ungefähr zwei Jahren veränderte Martin sich. Er wurde zu einer kleinen, launischen Bombe, die Angelika nur mit großer Mühe in Zaum halten konnte.
,,Ich schwöre dir, dass er ruhiger wird.“
,,Man hört ihn bis auf die Straße hinaus brüllen.“
Das Kind störte Fritzl, aber es war nie die Rede davon, Martin hinaufzubringen. Trotzdem steckte Angelika ihm manchmal einen kleinen Knebel in den Mund.
Anfang März 1994 wurde Sabine geboren, nach einem Koitus, der knapp ein halbes Jahr nach Sophies Herausnahme aus dem Keller stattgefunden hatte. Aus Angst vor Repressalien hatte Angelika Fritzl
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