Claustria (German Edition)
geht das nicht.‘“
Sie sah Sabine die ganze Nacht beim Schlafen zu. Vor zweihundertachtundsechzig Tagen war sie geboren worden, und am nächsten Tag würde er sie ihr wegnehmen. So wie vier Jahre später Julius, der zweiundvierzig Tage zuvor seine ersten Schritte im Keller gemacht hatte. Wilde Kinder, die mehr schrien als die anderen und deren Lebhaftigkeit die Ruhe der Mieter so störte, dass einige gekündigt hatten. Andere waren einfach verschwunden, ohne ihre Miete zu bezahlen.
Fritzl nahm Sabine am Morgen mit. Er war mit einem Sack Kipferl angekommen.
,,Iss, sie sind noch warm.“
,,Wir könnten noch eine Weile warten. Zurzeit ist sie ruhiger. Du weißt, dass sie seit einer Woche nicht mehr geschrien hat.“
Am Abend zuvor hatte Angelika noch befürchtet, sie würde ihre Tochter ersticken, so fest hatte sie ihr die Hand auf den Mund gedrückt, damit ihr Gejammer nicht zu hören war.
,,Die frische Luft wird ihr guttun. Und deine Mutter mag die Kleinen.“
Angelika hatte geweint.
,,Ich gebe dir gleich einen richtigen Grund, zu weinen!“
Unter dem Hieb hatte sie sich gekrümmt. Bevor er Sabine unter den Arm genommen hatte, hatte er noch ein gefülltes Kipferl gegessen. Angelika hatte Sabine im Labyrinth weinen hören. Dann war das Geräusch leiser geworden.
Fritzl war auf der Treppe angekommen.
Anneliese hielt sich in der Küche auf. Der Gatte war begeistert von der Überraschung, die er seiner Frau gleich machen würde. Er legte ihr das Mädchen in den Arm. Anneliese erkannte die Stimme des Kindes wieder. Sie hatte gehört, wie sie immer klarer und nuancenreicher geworden war, je weiter Fritzl die Kleine nach oben getragen hatte. Seit ihrer Geburt hatte Sabine Anneliese mit ihrem Weinen gestört. Davor musste sie den Lärm der Geburt ertragen. Anneliese hatte Angelika im Stillen verflucht.
,,Eine Zimperliese wie die Prinzessin auf der Erbse!“
Fritzl ging ohne ein Wort. Er stellte das Auto am Rand der alten Landstraße von Amstetten nach Linz ab. Dort stand eine Telefonzelle neben einem Pissoir aus Tannenholz, aus dem ein Wasserstrahl zu hören war. Er verband den Tonbandlautsprecher mit der Sprechmuschel. Er rief bei sich zu Hause an. Anneliese hob ab. Nach Angelikas Erklärung knallte er den Hörer wieder auf die Gabel.
,,Komm sofort zurück! Du bist eine ledige Mutter und du bist ein Ungeheuer!“
Anneliese schimpfte ins Leere hinein weiter. Nachdem ihr die Flüche ausgegangen waren, legte sie Sabine in den Kinderwagen und ging zum Polizeiposten. Ein merkwürdig staatsbürgerliches Unterfangen für eine Frau, die gar nicht genug Kinder haben konnte und das Risiko einging, dass man die Kleine in eine Pflegefamilie gab.
,,Gerade habe ich einen Anruf bekommen. Mein Mann hat das Kind heute Morgen auf der Fußmatte gefunden. Das ist schon das zweite Kind. Warum machen Sie keine Razzien bei den Sekten? Meine Tochter gehört ins Gefängnis!“
Angelikas Verhaftung hätte sie beruhigt. Dann würden ihre Erinnerungen absurd werden, und eine ganze Kinderkrippe könnte Tag und Nacht im Keller heulen, ohne dass ihre Ohren es hören würden.
Die Polizei leitete kurze Ermittlungen ein. Sie konnte die Telefonzelle nicht finden, aus welcher der Anruf gekommen war. Damit war die Sache erledigt. Anneliese gestand Fritzl, was sie getan hatte. Sie kam noch einmal davon und musste ihre Scham vor den Kindern hinunterschlucken. Als es Zeit fürs Abendessen war, rieb sie sich automatisch die Wange, auf der noch immer der rote Abdruck seiner Pranke zu sehen war.
In der Nacht lauschte Angelika. Wenn keine Luft durch den Lüftungsschacht geblasen wurde, konnte sie ihn gelegentlich als Hörrohr benutzen. Manchmal hörte sie Sabine. Kurze, nächtliche Schreie. Das Mädchen schlief im Elternschlafzimmer, und Anneliese schritt gleich ein, wenn es jammerte.
Sophie war nun zwei Jahre alt. Seit Fritzl sie ihr weggenommen hatte, hörte Angelika sie wachsen. Ihre Freudenschreie, ihre Launen, ihr Lachen im Sommer, wenn man sie in einem Schwimmring mit Entenkopf in den Pool setzte.
Oft war Angelika versucht, mit ihren Kindern oben im Exil zu sprechen. Aber sie hatte Angst vor der Strafe des Vaters, der vielleicht beschließen könnte, eine gasgefüllte Patrone in den Lüftungsschacht zu werfen. Außerdem hätte sie schreien müssen, um gehört zu werden. Die Kinder hätten Angst vor dieser Stimme aus der Erde gehabt. Sie hätten nie erkannt, dass es die Stimme ihrer Mutter wäre.
Seit Sabines Weggang waren zehn Tage
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