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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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weg sei im All, dass Er mit Seinen altersschlechten Augen nicht einmal die Erde sehen kann, ein winziges Körnchen in der Unendlichkeit.
    Sie hatte die Kinder heimlich getauft. Über der Spüle ein paar Tropfen lauwarmes Wasser auf den Kopf. Eine Art genuschelter Taufspruch, Worte, die sie sich nicht auszusprechen berechtigt fühlte, weil sie weder Nonne noch Pfarrerin war.
    Aufs Geratewohl gab sie den Kindern eine Kurzfassung des Katechismus.
    ,,Gott ist groß und lieb.“
    Eine Art große, freundliche Kugel, liebevoll und wohlwollend, deren Position aber nicht genau zu bestimmen war.
    ,,Wenn man Ihn ruft, kommt Er nicht. Er kommt immer dann, wenn man nicht mit Ihm rechnet.“
    Sie malte für die Kinder eine Skizze. Ein großer Kopf mit Pausbacken, spitzer Nase und einem Auge mit Monokel, damit Er in der Bibel nachschlagen kann, wenn Sein Gedächtnis nachlässt und Er Sich nicht einmal mehr an Adam erinnert.
    ,,Kommt Er zu uns?“
    ,,Er wartet, bis wir draußen sind.“
    ,,Wann gehen wir raus?“
    Um des lieben Friedens willen log sie.
    ,,Vielleicht morgen.“
    ,,Packen wir unsere Koffer?“
    Ein geheimnisvoller Begriff, den Angelika einmal anlässlich einer Geschichte über ein Eichhörnchen, das ins Land der Nüsse reist, gebraucht hatte. Um die Zeit zu vertreiben, spielte sie mit.
    ,,Vergesst eure Zahnbürsten nicht!“
    Plastiksäcke prallvoll mit Plüschtieren und hineingestopften Kleidern. Wenn die Kinder schliefen, leerte Angelika die Taschen wieder und räumte die Sachen auf. Am nächsten Tag sagte sie ihnen dann, dass man ein solches Ereignis lange im Voraus planen müsse und das Morgen an einem anderen Tag kommen würde.
    ,,Wann?“
    Am Ende mit den Nerven schimpfte sie, um die Kinder auf andere Gedanken zu bringen.
    ,,So eine Unordnung! Und geduscht habt ihr auch noch nicht.“
    Ständig duschen, baden, sich mit einem Rosshaarhandschuh abreiben, ein letzter Guss mit brühheißem Wasser, bei dem die Kinder das Gesicht verzogen. Sie wollte saubere, gepflegte Kinder. Sie träumte davon, dass sie funkelten wie Goldstatuen.
    Aus Angst vor Keimen, die sie sich wie Raubtiere in den Ecken des Kellers lauernd vorstellte, spülte sie das Geschirr mit kochendheißem Wasser. Sie meinte sogar, die nicht wahrnehmbaren Mikroben zu sehen, die durch die Luft flatterten und zu wendig waren, als dass man ihrer habhaft wurde.
    Wenn die Kinder ihren Vater fragten, zitterte Angelika.
    ,,Stimmt es, dass wir morgen gehen?“
    ,,Wann ist morgen? Ist das bald?“
    Er sah Angelika an und lachte ihr ins Gesicht.
    ,,Sicher bist du ruhiger, wenn sie sich zum Teufel scheren.“

Eines Tages im Dezember 1991 schleppte Fritzl einen Bohrer und eine Kabelrolle an. Er stieg auf einen Sessel, löste eine der Plastiklatten von der Decke und durchbohrte sie. Ein ohrenbetäubender Lärm, Decke und Wände vibrierten.
    Es hallte durchs ganze Haus. Anneliese erstarrte kurz auf der Treppe, versuchte sich nicht zu erinnern und ging mit dem Korb in der Hand weiter, um wie jeden Mittwoch beim Fischhändler in der Wiener Straße Karpfen zu kaufen. Die Mieter waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule, aber diese Leute hatten ohnehin die Angewohnheit, von Zeit zu Zeit ihre Ohren zu verlegen wie Schussel ihre Brillen.
    Gips fiel zu Boden. Angelika fegte ihn gleich zusammen.
    Durch das Loch führt Fritzl mehrere Meter Kabel.
    ,,So kann ich hören, was du den Kindern über mich erzählst, wenn ich nicht da bin.“
    Er geht wieder. Angelika und die Kleinen sehen das Kabel die Wand hinaufklettern und nach und nach durch die Öffnung verschwinden. Bald ist die ganze Rolle aufgebraucht, nur noch ein kleines Stück baumelt an der Decke.
    Die Zeit vergeht, Fritzl kommt nicht wieder.
    Angelika beginnt, die Vorräte einzuteilen. Es gibt bereits nichts Frisches mehr, die Kartoffeln gehen langsam zur Neige. Als sie hinter dem Kühlschrank eine faulige Birne findet, weint sie. Sicherlich haben die Kinder damit gespielt, aber sie leugnen es. Angelika schlägt sie. Am Abend schlafen sie weinend ein. Sie macht sich Vorwürfe – vielleicht erinnern die Kinder sich nicht, oder die Birne hat sich selbst von dem Plastikteller, auf dem sie gelegen hatte, in den Abgrund gestürzt.
    Die Sachen verstecken sich oder fallen herunter. Der Keller muss abschüssig sein, man ist hier nicht in einer stabilen Position. Er hebt und senkt sich wie eine Wippe, er muss auf einem Bach gebaut sein. Wenn er wirklich schwimmt, habe ich Angst, er könnte davontreiben, wenn es in unser Boot

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