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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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durchführen wie das letzte Mal, als er die Kleider verstreut, die Matratze auf den Boden gezogen, den Bettrost umgedreht, die Konserven mit dem Taschenmesser aufgeschnitten und untersucht hatte, die Ölsardinen aufgeschlitzt hatte, aus Angst, Angelika könne in ihren Eingeweiden Waffen verstecken. Das Heft hatte er in die Luft geworfen, aber nicht durchgeblättert. Beim nächsten Mal würde er es vielleicht aufschlagen.
    Sie packte es in einen Plastiksack, versteckte es im Tiefkühlfach unter paniertem Fisch. Am nächsten Tag holte sie es aus seinem Versteck, schlug es auf, sah es an. Sie zerriss es, behielt nur die Seiten, auf denen man noch die Notizen erkennen konnte, die sie vor ihren Anfällen gemacht hatte. Die anderen verbrannte sie in der Badewanne, die Asche spülte sie hinunter.
    Am selben Tag führte sie ihr Tagebuch weiter. Sie schrieb auf Packpapier, Kartonfetzen. Sie traute sich nicht, Fritzl um ein neues Heft zu bitten.
    Sie kam wieder zur Ruhe. Der Fernseher lief und ließ alle Welt die Nachrichten aus ebendieser Welt vergessen.

Mit sieben Jahren bekam Petra eine schlimme Erkältung, die sich zur Bronchitis auswuchs. Mit Aspirin konnte das Fieber gesenkt werden, es half aber nicht, die endlosen Hustenanfälle zu lindern. Fritzl brachte nicht gern Medikamente in den Keller. Sicherlich fürchtete er einen kollektiven Selbstmord unter der Regie der Mutter, um dieses unterirdische Land zu entvölkern, das trotz fröhlicher Momente in direkter Nachbarschaft zur Hölle lag.
    Um den lauten Husten zu dämpfen, über den die Mieter schon tratschten, brachte er dennoch eine Flasche Sirup. Ein Antihistamin, das einen bei einer Überdosis in Tiefschlaf versetzt.
    Der Sirup heilte den Husten, und Petra schlief nach einer Viertelstunde ein. Als Vater und Tochter kopulierten, schneite Martin nur einmal herein und streifte still durchs Zimmer, mit ernster Miene, als hätte ihm die Abwesenheit der Schwester die Lust auf das Spiel vollkommen genommen und ihn jäh mit der abstoßenden Wirklichkeit konfrontiert.
    Auf Fritzls Befehl gab Angelika dann immer beiden Kindern vor dem Koitus einen Löffel Sirup. Sie schliefen tief, das Keuchen ihres Vaters und Großvaters und die Schmerz- oder Lustschreie ihrer Mutter weckten sie nicht.
    Von nun an gab es immer Hustensaft im Keller, die Polizei fand bei der Durchsuchung eine angebrochene Flasche und zwei auf Vorrat. Der Arzt vermutete, dass der Missbrauch dieses Medikaments Petras Zustand verschlimmert hatte.
    In den letzten Jahren hatten sich die Organismen der Kinder an den Wirkstoff gewöhnt. Zur Sedierung mussten die beiden großen Kinder die Bodendecke einer Tasse trinken, Roman hingegen hatte immer empfindlich auf den Sirup reagiert und schlief schon nach wenigen Tropfen wie ein Murmeltier. Den älteren Kindern gab Angelika auch Hustensaft, wenn die Hormone sie aus ihrer Apathie rissen, sie verrückt spielten und alles kaputt schlugen.
    Die Apotheker in Amstetten wunderten sich irgendwann, dass Fritzl selbst im Hochsommer immer so viel Hustensaft kaufte. Aus Vorsicht versorgte er sich daraufhin in einem Dutzend Apotheken im Umland. Wenn er auf Reisen war, brachte er immer so viel Sirup mit, dass man damit zwei Stiere außer Gefecht setzen konnte.
    Eine chemische Zwangsjacke. Ein praktisches Mittel, um Körper und Geist ruhigzustellen. Um stechendes Zahnweh, Ohrenschmerzen, einen verstauchten Knöchel im Schlaf zu ersticken. Um Martins Nervenkrisen und Petras Raserei ein Ende zu bereiten, wenn es Angelika nicht gelang, Fritzls Feuer zu löschen, wenn er sie besudeln wollte.
    Angelika trank oft davon, wenn sie am Ende war. So wie man sich einen Rausch antrinkt. Ein Zustand der Trägheit, der Euphorie, ein seliger Kampf gegen den Schlaf, der sie als krönender Abschluss dann doch überkam. Erwachen mit dickem Kopf, Kater, Katzenjammer, Übelkeit, haufenweise Aspirin.
    Es gibt keine Zivilisation ohne Rauschmittel. Manchmal wird das Leben zu schwarz, die Zukunft erscheint einem nicht heller als ein Grab, der Stress wird unmenschlich schlimm. Das Kellervolk trank Hustensaft wie andere Menschen Palmwein, Ethanol oder gepanschten Wodka, der Generationen von Straßenkindern in den Städten Osteuropas dahinrafft. Angelika hätte sich den Sirup auch intravenös verabreicht, aber im Keller gab es keine Spritze.
    Der Vater war meistens nicht da, er sorgte zwar für das Nötigste, beteiligte sich aber nicht an der Kindererziehung. Angelika war eine Art Heimmutter, verantwortlich für

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