Claustria (German Edition)
hereinregnet. Man sieht das Essen nicht, überall Diebe. Selbst wenn die Türen fest versperrt sind, stibitzen die Kinder sicherlich. Stehlen ist kein Beruf, ich will nicht, dass sie eines Tages ins Gefängnis kommen. Der Keller ist zu klein, ich weiß nicht, wo man ihre Zelle unterbringen sollte.
Sie vergaß die verdorbene Birne, erinnerte sich nun an eine verschwundene Birne. Sie schüttelte die Kinder, ließ sie verschlafen vor der Wand knien. Sie wollte, dass sie gestanden. Tränen, sie baten um Verzeihung.
,,Was habt ihr mit dem Stiel und mit den Kernen gemacht?“
Sie sagte sich, dass sie alles hinuntergeschluckt hatten, um keine Spuren ihres Vergehens zu hinterlassen.
Am nächsten Tag stand sie benommen vor Hunger auf.
Ich glaube, jetzt gibt es wirklich nichts mehr. Mir war, als würde ich eine Wolke aus Reis sehen. Wenn man am Spiegel über dem Waschbecken leckt, ist er süß, der Wasserhahn an der Spüle schmeckt nach Fisch. Ich kann nicht die ganze Zeit auf alles aufpassen. Solange er nicht wiederkommt, binde ich die Kinder im Bett an. Wenn er gar nicht wiederkommt, mache ich Spiele. Ich will nicht, dass sie verhungern. Irgendwo muss noch Zucker sein, er wird sich wiederfinden. Die Kinder stehlen nichts, die Sachen selbst sind nicht ehrlich. In diesem Keller lernt man sie kennen. Ich tue so, als würde ich das Fleisch nicht lachen hören, ich hebe nicht mal den Kopf. Immer wenn ich ihm hinterherlaufe, verschwindet es unter dem Bett. Wenn ich es packe, ist es eine Ratte, ich will hier keine Haustiere, man muss sie füttern und ausführen. Wenn nur Thomas mich hören könnte, anstatt mich unter der Dusche zu belästigen. Ich glaube, oft ist er Papa, sie halten mich wirklich für eine Puppe, sie glauben, dass ich sie verwechsle wie ein Dummkopf. Thomas bringt nie etwas mit oder etwas von McDonald’s, das verschwindet dann sofort, ich weiß nicht, wohin es geht, ich finde es nie wieder. Die Sesamkörner neulich unter der Spüle – das war sicherlich Staub. Männer wollen uns nur wehtun. Sie wollen immer noch mehr. Ich weiß nicht, was. Manchmal meint man, sie hätten ihren Penis in Glasscherben gesteckt oder ihn mit Stacheldraht umwickelt. Thomas muss verstehen, dass ich lieber esse, als Liebe zu machen. Ich höre Brot im Mistkübel, die Kinder verkleiden sich als Spanferkel. Ich will nicht, dass sie die Farbstifte vergeuden, um sich zu kostümieren, ich habe genug von diesem Zirkus. Während ich geschlafen habe, haben sie mir ein Schafkostüm aufgemalt. Ich werde mich trotzdem nicht auf dem Spieß drehen, der an der Stelle des Bettes steht.
Sie schrieb auf den Boden, um Papier zu sparen. Mit reichlich Wasser putzte sie es wieder weg. Die Wörter blieben sowieso nicht am Platz. Die Sätze bestiegen einander wie Nacktschnecken. Wie Schlangen ringelten sie sich um die Tischbeine. Sie sagten Sachen, die sie selbst erfanden. Angelika kniete sich hin, um sie mit der Bürste wegzuschrubben.
,,Ich glaube euch nicht, ihr wisst ganz genau, dass ihr lügt!“
Die Wörter sagten ihr, dass niemand sie besuchen kam außer diesem sie demütigenden Vater. Ihm war es gelungen, sie in die Sklaverei derer zu treiben, die ihren tyrannischen Herrn lieben. Er hätte die Türen auch offen lassen können – fiebrig hätte sie auf die Rückkehr des Männchens gewartet.
,,Am Ende bist auch du im Keller geboren wie die Kleinen. Er wird dir deine Vergangenheit stehlen, wie er auch deine Zukunft ausgemerzt hat. Schon jetzt erinnerst du dich nicht mehr. Die Erinnerungen – wirr, zerquetscht, vergessen, wiedergefunden, umgestaltet, verfälscht – sind nichts als eingestürzte Fundamente. Und du treibst auf einem zermalmten, verlogenen Gedächtnis und einer vergangenen Wirklichkeit, die zu Sand zerfallen ist. Du hast keine Kindheit und keine Jugend mehr. Dein ganzes Leben ist zwischen diesen Wänden. Im Keller ist dein Horizont, dein Leben, dein Tod, dein Heute, dein Gestern, dein Morgen. Der Keller ist deine Arche. Du bevölkerst sie mit Kindern, die über den Boden kriechen wie Insekten ohne Beine.“
,,Ich werde euch umbringen.“
Sie schrubbte. Kurz ließen die Wörter sich wegwischen, um gleich wieder fett wie Mönche aufzutauchen. Sie hat Angst, dass Fritzl kommen und sie sehen könnte. Dass er sie für Gedanken halten könnte, die aus ihrem Kopf gefallen sind, für Vorwürfe, Worte des Aufstands. Er würde die Kinder mitnehmen. Er würde nicht wiederkommen.
Zappelnd, vor Wut schreiend, Beschwörungen und inständige
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