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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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eine Familie mit zugewiesenem Zwangswohnsitz. Je knapper der Platz wird, desto mehr Ordnung muss man halten. Toleranz und Anarchie sind undenkbar an einem Ort, an dem man sich beim kleinsten falschen Schritt anrempelt und jedes zu laut gesprochene Wort hallt, in den Ohren dröhnt – wo man aber nicht einfach seinen Mantel nehmen und an die Luft gehen kann, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.
    Unbeugsame Strenge. Jeder Tageszeit ist ein bestimmter Ort im Keller zugewiesen. Wiederholte Tätigkeiten, um die Zeit zu strukturieren. Im Keller gibt es keinen 24-Stunden-Rhythmus, nur das Gefühl, es müsse Morgen sein, wenn das Fernsehen seinen Talkgästen Kaffee anbietet, und Abend, wenn der Sprecher am Ende der Nachrichten eine gute Nacht wünscht.
    ,,Ihr solltet schon im Bett sein.“
    Die Kinder aufs Bett geworfen wie zwei Schlummerrollen.
    Manchmal ist die Familie beim Fernsehen uneins. Es gibt längere und kürzere Tage. Nächte dauern zwanzig Stunden im Winter bei Kälte, die den Stoffwechsel verlangsamt und den Schlaf manchmal bis in den Tod hinein verlängert. Kurze Tage während der Sommerhitze, Schweißbäder, so ein Durst, dass man aus dem Bett fällt.
    Die biologischen Uhren der Kellerbewohner sind für immer kaputt. Nach ihrer Befreiung mussten sie sich ihr Leben lang mit Schlafmitteln beruhigen. Ohne diese Hilfe konnten sie dreißig Stunden am Stück wach sein, einen kurzen Nachtschlaf halten wie eine Siesta oder Nächte durchschlafen, lang wie Wochenenden. Sie legten sich im Morgengrauen, zu Mittag, zur Jausenzeit hin, standen mitten in der Nacht, in der Dämmerung, eben irgendwann auf.

Angelika versuchte den Kindern das Leben begreiflich zu machen. Das provisorische Leben im Verlies und das draußen in der Welt, das sie erwartete.
    ,,Wann gehen wir?“
    ,,Bald?“
    ,,Ja.“
    ,,Wann?“
    ,,Wenn ihr brav genug seid.“
    Eine Welt, versprochen wie ein Geschenk.
    ,,Wir sind brav.“
    An manchen Tagen löcherten sie Angelika mit Fragen.
    ,,Warum bist du dort oben geboren und wir nicht?“
    ,,Hast du Schiffe gesehen?“
    ,,Wie viel heller ist die Sonne als die Lampen?“
    ,,Hast du Angst gehabt, wenn du eine Treppe hinaufgestiegen bist?“
    ,,Hast du auf der Straße mit Leuten gesprochen?“
    ,,Bist du in Konditoreien gegangen?“
    ,,Gab es Bäume in der Schule?“
    Sie antwortete oder auch nicht, ließ die Fragen vorüberziehen. Sie schaffte es nicht, es ihnen zu erklären.
    ,,Warum wohnt Papa oben?“
    ,,Wenn du den Kopf gehoben hast, hast du da keine Angst gehabt, in den Himmel zu fallen?“
    ,,Woher hast du gewusst, dass die Schaufenster nicht lügen, dass dahinter nichts anderes ist als das, was du gesehen hast?“
    ,,Bist du weggeflogen, wenn es windig war?“
    ,,Konnte man Schranken überspringen?“
    Angelika lauschte ihnen wie einer Musik, wenn sie Gemüse putzte, eine Gesichtsmaske aus grüner Tonerde auftrug, den Vorhang zuzog beim Pinkeln. Sie hoben die Stimme zu höheren Noten, um das Geräusch des Wassers zu übertönen.
    ,,Ist der Himmel voll mit Luft? Wer setzt die Wolken an den Himmel? Wer zündet die Sterne an? Wer schiebt die Sonne? Gibt morgens jemand dem Mond einen Tritt, damit er die Sonnenstrahlen nicht verbirgt? Ist die Nacht aus Rauch?“
    Sie zog den Vorhang wieder zurück, ging ins Schlafzimmer. Die Kinder folgten ihr auf allen vieren und stellten weiter Fragen.
    ,,Hast du Blumen gegessen? Sind Katzen so etwas wie Ratten? Hast du dich versteckt, bevor du die Tür aufgemacht hast und aus dem Haus gegangen bist? Kitzelt Gras an den Füßen? Warum haben wir keine Federn wie Vögel? Wo hören die Straßen auf? Bewegt sich die Erde, wenn wir darauf laufen? Geht Gott manchmal im Beisl ein Bier trinken?“
    Sie erzählte ihnen oft von Gott. Wie ihre Geschwister war auch Angelika in der Klosterkirche von Amstetten getauft worden. Die Taufe ist Brauch in Österreich, wo die Mehrzahl der Einwohner Katholiken sind. Angelika war zwar nicht sehr fromm, aber in den ersten Monaten unten in der Kellerhöhle hatte sie es mangels besserer Alternativen für gut befunden, zu glauben. Ein Gottesbild, von überallher zusammengetragen, ein Haufen Erinnerungen wie zerschlagener Krempel, Bilder von Madonnen im blauen Gewand, Heilige mit Blattgoldaureole, eine Filmszene, in der eine Nonne in weißer Sommertracht in einem Garten einem kleinen Mädchen zulächelt, das ein Gipslamm im Arm hält.
    Ein Gott, den sie im letzten Winkel gesucht, ein Gott, den sie nicht gefunden hatte. Am Ende beschloss sie, dass Er so weit

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