Claustria (German Edition)
mit viel Wasser wieder zurücknehmen. Er kratzt sich am Kinn.
,,Warum nicht? Der Großvater deiner Großmutter hieß auch Julius.“
Zu dieser Zeit kam Fritzl oft herunter. Der Keller wurde regelmäßig mit Essen versorgt. Vielleicht aus einer vorübergehenden Lust heraus, ein vorbildlicher Vater zu sein. Eher aber aufgrund eines plötzlichen Testosteronschubs bei dem fast Sechzigjährigen, der wildentschlossen war, seiner Tochter zu beweisen, dass er noch ein feuriger Ehemann war.
Jedes Mal Koitus, Sexaccessoires tauchten auf. Angelika wurde geknebelt und von allen Seiten missbraucht. Das Spielzeug machte ihr so viel Angst wie der Pfahl. Blut wie ein Ersatz für Schnaps. Gewalt, Brutalität, immer noch gewalttätiger, immer noch brutaler, damit der Vater und Liebhaber die Vergewaltigung jedes Mal stärker spürt. Würgen, nachgestelltes Töten, das Hochgefühl, die Todesangst im Blick seiner Tochter zu sehen, wenn er seine Tropfen abspritzte und dabei brüllte wie ein Tiermännchen.
Angelika zog diese grauenvollen Spiele dem Alltag vor. Eine primitive Lust aus den Tiefen ihres Reptiliengehirns. Die Angst, der Schrecken, der nahe Tod, der Abgrund, der Wunsch, zu verschwinden, und der Orgasmus, der sie überkommt. Bis zum Ende ihrer Tage sehnte sie sich nach diesen wilden Festen, bei denen auf das Grauen die Lust folgte.
Ein Sonntag vor Tagesanbruch. Die Kinder bekamen am Abend Hustensaft, Angelika leerte den Rest der Flasche, um sich zu betrinken. Keiner hört die Tür aufgehen. Fritzl läuft durch die Küche, schleicht sich in den Gang.
Seit seiner Taufe schläft Julius auf einer kleinen Matratze neben dem Etagenbett seiner Geschwister. Fritzl hebt ihn hoch, trägt ihn schlafend weg.
Wieder schoss ein Kind in der Nacht aus dem Gehsteig wie ein Pilz mit Gesicht. In der Tasche des Strampelanzugs ein Brief, geschrieben von Fritzl, unterzeichnet von Angelika, mit I-Tüpfelchen in Form von Herzchen.
Ein neues Geschenk für Anneliese. Gleich darauf zeigt sie es in Amstetten herum. Sie nimmt es an der Hand, gibt ihm einen Klaps, wenn es müde vom Aufrechtgehen ist und auf alle viere fällt, um bequem weiterzutraben. Sie hebt ihn hoch, um ihn der Bäckersfrau hinter dem Verkaufstresen vorzuführen.
,,Ist das Ihr Enkel?“
,,Noch ein Kind, das meine Tochter uns vor die Tür gelegt hat.“
,,Waren Sie bei der Polizei?“
,,Natürlich. Wenn die sie endlich mal schnappt, hoffe ich, dass sie sie direkt ins Gefängnis befördert!“
Sie hatte sich wohlweislich gehütet, zur Polizei zu gehen. Fritzl wartete die folgende Woche ab, dann meldete er Julius’ Auftauchen den Behörden. Auf dem Standesamt wurde das Kind ins Melderegister aufgenommen, ohne dass sich jemand gewundert hätte.
Angelika wachte lange nach Julius’ Verschwinden auf. Die Kinder schliefen noch immer übereinander wie sturzbetrunkene Engel. Angelika hatte einen trockenen Mund, ihr Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Mit einem kleinen Rest klaren Verstandes gelang es ihr, Gegenstände nicht für Tiere oder Gespenster zu halten. Drei große Becher Kaffee im Magen, eine ausgiebige Dusche. Sie trocknet sich ab, legt sich wieder hin.
Sie wacht auf, schaltet den Fernseher an. Der Werbeblock vor den Abendnachrichten. Petra und Martin schlummern noch immer. Angelika sieht eine neue Haarpackung, mit der sie vielleicht endlich ihren trockenen Haarspitzen zuleibe rücken könnte. Als erste Meldung verliest der Nachrichtensprecher, dass der Minister, der bezichtigt wird, ehemaliger SS-Offizier gewesen zu sein, nicht entlassen wird.
,,Das Ausland darf sich nicht in die inneren Angelegenheiten Österreichs einmischen.“
Angelika schaltet um. In der Küche schüttet sie einen Rest Kaffee hinunter. Sie nutzt den Schlaf der Kinder, um den Boden zu schrubben, die Schränke auszuwischen, die Badewanne auf Hochglanz zu bringen. Im Fernsehen kommen Videoclips, sie trällert beim Arbeiten mit.
Mitten in der Nacht kommt Panik auf. Noch benebelt vom Hustensaft gießen die Kinder Milch in einen Topf und bereiten sich ihr Frühstück zu.
,,Euer Bruder ist aber lieb.“
Während Petra ein Butterbrot streicht, verkündet sie ihrer Mutter die Neuigkeit.
,,Er ist nicht mehr da.“
,,Was redest du denn da?“
,,Er hat sich versteckt.“
Angelika durchsucht den Keller. In der Speisekammer wirft sie alle Kartons zu Boden, als hätte das Kind bis zur Decke hochklettern können. Sie sieht unter den Betten, unter der Spüle nach, sie schaut sogar in den Spalt
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