Claustria (German Edition)
unter der Badewanne. Die Kinder bleiben ihr auf den Fersen.
,,Ist er weg, Mama?“
Neidvolles Flackern in ihren Augen. Das Baby hatte die Macht, Mauern zu durchdringen oder sich so klein zu machen, dass es durch das Rattenloch kriechen konnte.
,,Kommt er wieder?“
Die Schreie der Mutter. Die Mieter fahren aus dem Schlaf auf. Einige stürzen ins Treppenhaus, als hätten sie eine Sirene gehört. Ein Paar, das sich in ein Einzelbett gequetscht hat, steckt sich Stöpsel in die Ohren. Fritzl warnt Anneliese: Wir haben nichts gehört.
,,Du hast wohl laut geträumt.“
Beruhigt schläft sie weiter. Hartnäckige Schreie, kaum unterbrochen von Stille, wenn Angelika keine Luft mehr in den Lungen hat.
,,Ihr Vater behauptet, Sie hätten ihm geholfen, das Baby hinaufzubringen.“
Angelika zieht an einer Zigarette. Sie meint, Luft durch das offene Fenster kommen zu sehen. Gerade ist es dunkel geworden, sie nimmt ihre Sonnenbrille ab. Der Himmel ist wie ein Meer, dessen Wellen in den Häusern branden, der Sauerstoff wie die Luft in den Blasen der Gischt.
,,Hat er gelogen?“
Sie drückt den Stummel auf der Untertasse aus, die ihr als Aschenbecher dient. Sie ist es müde, auf all diese Fragen zu antworten.
,,Ich möchte gern mit Julius sprechen.“
Der Inspektor wählt die Nummer des Hotels, in dem Julius seit Kurzem zusammen mit seinen Schwestern wohnt. Während der Befragungen will sie oft mit einem ihrer Kinder sprechen, die sie tags zuvor gesehen hat und tags darauf wieder sehen wird.
,,Ich verbinde Sie.“
,,Lassen Sie nur. Ich wollte nur wissen, ob er noch da ist.“
Sie selbst hatte vor zwei Tagen darum gebeten, dass die Befragungen künftig im Kommissariat stattfinden.
,,So komme ich auf andere Gedanken.“
Man musste sie in einem Krankenwagen wegbringen, das Gesicht unter einem Tuch verborgen wie bei einer Toten. Die Fotografen schossen aufs Geratewohl Bilder von dem Wagen.
Fritzl ließ sich Zeit – aus Angst vor einer Szene. Allmählich würde Angelika sich beruhigen, er würde sie wieder so zärtlich und zuvorkommend antreffen, dass er das Kellervölkchen weiter versorgte und ihm das Leben schenkte. Außerdem waren die Schreie am Vormittag schon seltener geworden. Am Abend war der Keller still, sicherlich schliefen alle. Nicht einmal den Fernseher hörte man rauschen.
Er wartete noch zwei Tage, bis er hinunterging. Er hatte am Tag zuvor eingekauft, die Sachen standen im Kellerbüro. Er horchte – er ging morgens hinunter, bevor er zur Arbeit fuhr, abends, wenn er nach Hause kam, und manchmal auch mitten in der Nacht. Die Geräusche aus dem Keller drangen in Wellen durch das Labyrinth. Er hörte einen Teller scheppern, der auf den Tisch gestellt wurde, die Gespräche der Kinder, deren Sprache auch er niemals verstanden hat.
Diese Sprache veränderte sich wohl, ein Wort bezeichnete nicht immer denselben Gegenstand, die Verben wurden je nach Kontext, in dem sie verwendet wurden, umgestellt, darüber hinaus war die Aussprache der Kinder nie gleich. Amerikanisch, französisch, asiatisch – wie sie es bei untertitelten Filmen aufschnappten. Eine Universalsprache, deren Wortschatz, Grammatik und Phonetik keiner je durchschaute. Nach ihrer Befreiung aus dem Keller sollten sie diese Sprache nach und nach ablegen und lange vor ihrem frühzeitigen Tod vergessen.
Die absolute Stille dauerte an. Die Dusche, dann das Murmeln des Fernsehers, Fritzl konnte aber nicht wissen, ob Angelika aufmerksam zusah oder auf dem Bett lag und von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Bildschirm warf.
Eines Morgens hörte er nur noch das Dröhnen des Blutes in seinen Ohren. Er durchquerte das Labyrinth, warf die Lebensmittel in den Keller und verschwand wieder. Diese sporadische Versorgung hatte er sich angewöhnt, bis der Bub, der sich in Rauch aufgelöst hatte, nur noch einen Notsitz in Angelikas Bewusstsein einnehmen würde. Manchmal warf er ihnen nur Putzschwämme, eine Wurzelbürste, eine Packung Putzmittel hinein, als würde ihr Hunger ihn völlig kaltlassen.
Einen Monat nach Julius’ Verschwinden hatte Fritzl seinen großen Auftritt im Keller. Angelika war bezwungen und zu jeder Gemeinheit bereit, um den Vater und Ernährer zu verführen.
Es gab ein wüstes Gelage. Die Kinder waren beschwipst von Limonade, die mit Rheinwein gemischt war. Das ganze Volk lag über- und untereinander auf dem großen Bett. Fritzl stand als Erster der Stockbesoffenen wieder auf und stieg so beschwingt und flink wieder an die Erdoberfläche,
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