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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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der Mieter. All das unbedeutende Gerede über den Winterschlussverkauf, abgefahrene Reifen, die Steuern, die unersättlich Gehaltserhöhungen und Gratifikationen auffraßen. Sie schwärmte für diese Leben über ihr.
    Ihre Enttäuschung, als ein Mann seiner Frau nach einem Streit seinen Seitensprung gestand. Ihre Angst, als jemand von einer Röntgenuntersuchung mit einem Tumor auf dem Röntgenbild zurückkam. Ihre Trauer, als er ins Spital musste, ihre Verzweiflung, als sie zufällig bei einem Gespräch im Treppenhaus erfuhr, dass er am Donnerstag beerdigt wurde.
    Die Gespräche im ersten Stockwerk konnte sie nur entschlüsseln, wenn sie laut waren. Dann entging ihr keine Silbe eines Streits, einer Schelte, und sie hätte Buch führen können über die Anzahl der Schläge, die die Brut wöchentlich bekam.
    Aber der Garten war so nah, dass sie sogar hören konnte, wie der Klapptisch gedeckt wurde, und meinte, die Familie sehen zu können. Die Töne formten schließlich ein Bild in ihrem Kopf. Die Stimmen der Kinder verloren mit den Jahren an Höhe, die Buben kamen in den Stimmbruch, und Anneliese konnte nicht mehr so laut schreien, nachdem sie ihr Leben lang gebrüllt hatte und nun ein wenig heiser war.
    Wenn Angelika sich anstrengte und Argumente erfand, konnte sie den Garten und alles andere wieder als Halluzination abbuchen und sich erneut auf ihre Welt aus Wänden und Lampen konzentrieren.
    Sie beschloss, die Ausbildung der Kinder ernsthaft zu betreiben. Bei Dokumentarfilmen machte sie sich Notizen, etwa über Stahlproduktion oder die Herstellung von Mikroprozessoren, über politische Debatten und Kultursendungen aller Art. Das Fernsehen existierte, wenngleich man eingestehen musste, dass es log. Diese Lügen nutzte Angelika, um den Geist der Kinder zu formen.
    Schließlich hat man den Schülern ja auch lange Zeit tote Sprachen beigebracht, wohl wissend, dass weder die Lehrer noch sonst jemand sie noch sprach und dass sie vielleicht von Betrügern, die so pervers waren, dass sie kommenden Generationen die Spuren einer so unwahrscheinlichen Zivilisation wie der von Atlantis hinterlassen wollten, in Steinplatten gemeißelt worden waren. Auch das Fernsehen war eine Sprache.
    Ganze Tage mussten die Kinder stillsitzen, mussten in allen Einzelheiten das Erblühen einer Chrysantheme beschreiben, die Namen von achtunddreißig Radrennfahrern und ihre Platzierungen am Ende einer bestimmten Etappe oder die Namen der Schauspieler aufsagen, die im Nachspann einer monumentalen Hollywood-Produktion aufgeführt waren.
    Bis sie alles auswendig konnten. Wenn sie scheiterten, mussten sie am nächsten Tag von vorn anfangen. Am Ende absolvierten sie eine kleine Prüfung, die Angelika ihnen mit verschränkten Armen abnahm und dabei jedes Wort so deutlich betonte, dass sie sich fast den Kiefer ausrenkte.
    Hin und wieder kam sie auf den Gedanken, ihnen eine Generalwiederholung abzuverlangen. Dann gaben sie zwei Monate alte Nachrichtensendungen wieder. Angelika hatte keinen Grund, diese nach all der Zeit für unerheblicher zu halten als die Nachrichten des Tages, dessen Wechselfälle der Sprecher nun gerade im Schlafzimmer schilderte.

Im Juni 1997 beschloss Fritzl auf einmal, dass das Fernsehen den reibungslosen Ablauf im Keller störe.
    ,,Du träumst zu viel. All diese Sendungen bringen dich durcheinander. Du bist nicht mehr bei dir. Du vergleichst dich mit Frauen.“
    ,,Ich bin eine Frau.“
    ,,Natürlich nicht!“
    Für ihn war auch Anneliese keine Frau. Er misstraute der Menschheit, die seiner Meinung nach in Gestalt von Töchtern und Ehefrauen nichts taugte.
    Er hängte den Fernseher ab und umschlang ihn fest mit beiden Armen.
    ,,Ich werde ihn einem Mieter verkaufen.“
    Er verschwand. Die Stahlbetontür hinter ihm schloss sich wie eine ehrerbietige Empfehlung. Angelika machte sich Vorwürfe, dass sie sich nicht auf ihn gestürzt hatte – als hätte sie ihm seine Beute abnehmen und sich ihrer bemächtigen können, bevor sie auf dem Boden zerschellt wäre.
    Damit hatte er ihr die letzte Schießscharte zugemauert, durch die sie noch die Bewegungen der Schatten jenseits des Kellers sehen konnte. Sie hatte das Gefühl, blind und taub geworden, in ihrem Schädel gefangen zu sein. Fritzl hatte wohl vor, sie lebendig zu begraben – die ersten Schaufeln mit Erde fielen schon auf sie herab.
    Sie ging in ihr Schlafzimmer. Vor dem verschwundenen Fernseher stieß sie einen nicht enden wollenden Schrei aus. Er durchdrang die Decke, sprang

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