Claustria (German Edition)
auch besser wäre, sie wäre eine andere.“
Tränen stiegen ihnen in die Augen.
,,Nicht alle Mütter sind gut.“
Ein leises, väterliches Lachen.
,,Das ist ein bisschen so wie bei Äpfeln.“
,,Äpfel?“
,,Manche sind sauer oder mehlig und wurmzerfressen.“
,,Gibt es Würmer in Äpfeln?“
Er stopfte sich ein großes Stück Käse zusammen mit einem Stück Brot in den Mund. Eine hartnäckige Ladung, die er nur mit Mühe zermalmen konnte.
,,Meine Mutter war eine gute Mutter. Streng, aber wundervoll. Eure Mutter liebt euch zu sehr, und Liebe ist schlecht. Man hat immer Angst, dass der andere es sich anders überlegen könnte. Wie ihr seht, hat sie euch heute vergessen. Aber sicherlich würde sie noch an euch denken, wenn ihr alle beide tot wärt wie neulich das Baby.“
,,Neulich?“
,,Ihr müsst doch gesehen haben, wie es gestorben ist.“
Die selbstgefällige Miene eines Geschichtenerzählers, der sein Publikum in Bann hält.
,,Soll ich euch töten? So wird sie sich an euch erinnern.“
Die Kleinen waren begeistert, dass ihr Vater ihnen anbot, sie einen richtigen Western erleben zu lassen, in dem man mit einem Schrei auf dem Pferd stirbt. Angelika hatte ihnen erklärt, dass im Film alle sofort wieder aufstehen, sobald die Kamera ausgeschaltet ist. Dann trinken sie Whisky und schlagen sich den Bauch voll.
,,Tötest du uns, Papa? Tötest du uns?“
Sie standen auf und trabten durch die Küche, manchmal richteten sie den Oberkörper auf wie ein sich aufbäumendes Pferd. Fritzl zog sein Taschenmesser, zielte damit auf sie wie mit einer Pistole. Dann widmete er sich wieder seinem Teller und aß seinen Käse auf. Die Kinder gerieten außer Atem. Sie legten sich seitlings auf den Boden wie niedergeschossene Pferde.
Fritzl stand auf und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Er machte eine Runde durch die Zimmer. Angelika saß auf der Bettkante und drückte ein Tuch auf die Wunde. Fritzl verließ den Keller, ohne sich von jemandem zu verabschieden.
Die Kinder hatten eine fröhliche Erinnerung an diesen Sketch. Noch lange versuchten sie, ihn mit ihrer Mutter nachzuspielen.
,,Tötest du uns, Mama? Tötest du uns?“
Sie kriegten eine geschmiert, aber das war nicht der Tod.
Krisen halten nicht an. Der Rest Freude, der im Keller noch herrschte, steckte Angelika schließlich an. Das Baby schrie, sie nahm es in den Arm. Sie fand wieder Lust am Stillen, badete mit dem Kind zusammen. Sie setzte es auf ihren Schoß und erzählte ihm die Geschichte eines Krokantbären. Sie lauerte auf ein Lächeln und gab es ihm hundertfach zurück.
Eines Morgens vor den Kaffeetassen und einem Korb voller Gebäck auf dem niedrigen Tisch des Studios, in dem die Moderatorin einem Bergsteiger gratulierte, der zum Fassadenkletterer mutiert war, fasst Angelika den Beschluss, dem Kind einen Namen zu geben, das am Vortag unter Petras und Martins Beifall und Stampfen seine ersten Schritte gemacht hat.
Wenn man ganz unten im Loch ist, ist Größenwahn ein Ventil. Der Wahn wird noch gesteigert durch das Eingesperrtsein einer Mutter, die meint, ein wunderbares Geschöpf zur Welt gebracht zu haben, eine Persönlichkeit, deren Leben zu einem ewig währenden Mythos wird. Der unwiderstehliche Wunsch, ihm den Namen eines Helden, eines Halbgottes, eines Kaisers zu verleihen.
Kürzlich sah sie einen Mantel- und Degenfilm, in dem Laurence Olivier Julius Cäsar spielte.
Die Kinder sind geduscht und tragen neue T-Shirts mit dem Logo von Volvo . Als sie im Supermarkt im Angebot waren, hat Fritzl ein Dutzend gekauft. Petra mit ihren Liebmädchen-Ponyfransen, Martin mit einem Seitenscheitel wie ein guter Schüler auf einem Klassenfoto. Angelika in einem weißen Nylonkleid hält das Baby ganz nackt übers Waschbecken. Die Zauberformel, und schon ist Julius unter ein paar Tropfen kalten Wassers getauft. Er ist so zornig, dass sie ihn auf den Boden stellen muss. Er krabbelt weg, um sich in einem alten Karton zu verstecken, der leer auf einem unteren Regalbrett in der Speisekammer steht.
Angelika wirft eine Handvoll Reiskörner in die Luft, als hätte sie gerade geheiratet. Ein schönes Kind, lebhafter, robuster als die anderen. Eines dieser Kinder, von denen die Mutter später zu ihrer Schwiegertochter sagt, sie hätte Glück, dass sie ihn ergattern konnte. Fruchtsirup in den Gläsern. Die Familie stößt vor dem Waschbecken an.
Am Abend sagt sie es Fritzl.
,,Julius?“
Sie hat Angst, er könne diesen Namen eingebildet finden und die Taufe
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