Claustria (German Edition)
unternahm Ausflüge in die Speisekammer. Die Augen auf den Boden geheftet, vermaß sie den Raum, als suchte sie Heuschrecken, Waldbeeren, Pilze. Sie setzte sich auf den Unterschrank, starrte an die Wand. Vielleicht sah sie Schattenfiguren, Hände, Finger, die sich irgendwo hinter einer Flamme bewegten. Eine Laterna magica, bunte Gesichter, Fragmente des Draußen durch ein Fenster, die Geburt der Zwillinge als Gouache-Zeichnung auf einer Glasscheibe, die Taufe, der tote Leib, der verschwindet.
Sie flüstert. Im Keller konnte sie heraufbeschwören, wen sie wollte, und endlos mit ihm sprechen. Sie beklagte sich bei ihrer Mutter, dass sie ihr nicht geholfen hatte, das Kind zu retten. Zu zweit ist man stärker, um gegen den Tod zu kämpfen. Und ihre Geschwister – wenn sie doch nur heruntergekommen wären, anstatt es sich da oben oder in Linz, in Wien, Gott weiß wo, bequem zu machen!
Thomas war im Lauf der Jahre verblasst, er war nur mehr eine körperlose Erinnerung, mit der man nicht reden konnte, weil Erinnerungen keine Ohren haben und auch keinen Mund, um zu antworten.
Aber Anneliese, die konnte motzen! Auf die Vorwürfe ihrer Tochter reagierte sie mit Gebrüll. Wenn sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, versuchte sie, Angelika von ihrer Hilflosigkeit zu überzeugen.
,,Die Einkäufe, die Kinder, die Wäsche, der Haushalt!“
,,Du könntest uns zumindest von Zeit zu Zeit Geld geben.“
,,Du konntest doch noch nie richtig mit Geld umgehen. Du wirfst es zum Fenster raus.“
,,Hier gibt es kein Fenster.“
,,Und auch kein Geschäft! Ich werde deinen Geschwistern doch nichts wegnehmen, nur um das Geld bei dir zu vergraben!“
,,Du liebst mich nicht.“
,,Meinst du, ich habe Zeit zum Lieben?“
Angelika nahm einen Schwamm vom Spülstein, wischte damit über ihren Körper, der sich daraufhin vollständig auflöste.
Das Essen wurde knapp. Im Schneidersitz hockte Angelika sich vor die Stahlbetontür. Sie hörte Schritte, sie kamen immer näher, doch Fritzl tauchte nicht auf. Trotzdem genoss sie den Duft der Rosen, der reifen Marillen, der Pasteten, die auf dem Weg waren und näher kamen. Sie reckte den Kopf und biss zu.
Widerwillige Leckerbissen, die darauf warteten, vernascht zu werden. Angelika stand auf, versetzte ihnen Tritte. Aufgeschreckt von dem Lärm kamen die Kinder ihr zu Hilfe. Ein Fußballspiel ohne Ball vor der geschlossenen Luke.
Eine Woche nach dem Tod des Babys kam Fritzl herunter. Er brachte Lebensmittel. Auch Windeln hatte er nicht vergessen.
Angelika lümmelte auf dem Bett herum, sie eilte nicht zu seiner Begrüßung. Die Kinder halfen ihm, die Sachen zu verstauen. Er ging ins Schlafzimmer. Das überlebende Baby schlief in seiner Kiste. Angelika hob den Blick. Sie sah Fritzl und drehte sich zur Wand.
,,Ich hab’ Entenkeulen mitgebracht.“
Sie sagte nichts.
,,Vergiss nicht, dass das Leben weitergeht.“
Sie hatte nicht einmal Lust, ihm zu sagen, dass sie nicht den Mut hätte, dieses Leben zu beenden. Sie drosselte seinen Durchlauf und hoffte, es nicht mehr in sich fließen zu spüren. Selbstmord wäre eine weitere Prüfung gewesen, eine Entscheidung, die getroffen werden müsste, eine Willensanstrengung, die sie sich nicht auferlegen wollte. Pflanzen vegetieren, sie leben nicht wirklich. Sie haben keine Angst vor einer kommenden Trockenheit, die sie welken und absterben lässt.
,,Du musst dich zusammenreißen.“
Sie drückte das Gesicht in den Polster, wollte in ein Loch fallen, ein weiches Grab, in dem sie nur gerade so weiterdämmern würde, um nicht den unangenehmen Ruck des Übergangs vom Leben zum Tod zu erleben.
,,Du bist launisch und egoistisch. Du schmollst immer nur wie ein freches Gör!“
Er trat ans Bett, packte sie an den Haaren, zog sie hoch. Sie landete auf dem Boden. Das Geräusch des Kopfes, der auf den Boden prallte. Sie stöhnte. Er drehte sie um. Ein dünner Blutfaden lief übers Gesicht. Eine Wunde klaffte an der Augenbraue.
,,Du wehleidiges Ding! Du hast nicht mal die Würde eines Tieres, das sein Maul hält, wenn es geschlagen wird.“
Er ließ sie auf dem Boden liegen.
Das mittelmäßige Abendessen bereitete er selbst zu. Die Ente ist nur halb gar, das Fleisch noch rot und kalt. Die Kinder sitzen brav zu beiden Seiten des Vaters. Kauend sehen sie ihn an. Ein liebevoller Blick. Er kam mit vollen Armen. Er schlägt sie nicht so oft wie Angelika, und wenn er da ist, schlägt die Mutter sie weniger.
,,Ihr habt Glück, dass ihr eine Mutter habt, wenn es
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