Claustria (German Edition)
dass er sogar vergaß, Anneliese zu schlagen, die ganz leise fragte, wo er gewesen sei.
,,Bei der Arbeit.“
,,Erstickst du nicht in diesem Keller?“
,,Zumindest muss ich deinen Schweinegestank nicht riechen.“
Sie fuhr sich durchs Haar, wie um sich zu vergewissern, dass dort keine Flöhe hausten.
Solche Nächte schluckte Angelika hinunter wie saures Aufstoßen. Sie hatte dieselbe Fähigkeit entwickelt wie Anneliese: zu vergessen. Eine Willensanstrengung, die langsam zum Reflex geworden war, als würde ihr Gedächtnis immer weiter an einer Vergangenheit für sie bauen, an die sie sich erinnern durfte, ohne verrückt zu werden.
In vielen Diktaturen werden Ermordete auf offiziellen Bildern wegretuschiert, Opfer werden aus dem Geburtenregister gestrichen, Verurteilten wird eingetrichtert, dass sie ein ganz anderes Leben gelebt haben als das, welches sie vor ihrer Verhaftung zu führen glaubten.
Angelika riss die Kinder aus dem Bett. Schelte und Schläge. Sicherlich hatten sie ihren Schlaf ausgenutzt, um sich in ihr Bett zu schleichen. Sie rochen nach Sex. Sie hatten sich an den noch warmen Laken des Beischlafs gerieben, die Angelika mit ihrer aller Vater geteilt hatte.
,,Ihr kleinen Spanner!“
Die Kleinen mit dem verlorenen Blick von Kindern, derer sich Erwachsene als Spielzeug bedienten. Angelika fesselt sie in der Speisekammer an die unteren Regale. Sie weinen kaum. Gefolterte merken schnell, dass Tränen die Wut ihrer Peiniger nur noch anfachen.
Angelika lässt sie allein, schluckt sie zusammen mit den Ereignissen der Nacht hinunter. Eine Flasche himmelblauer Badeschaum, den Fritzl ihr gestern mit den Lebensmitteln brachte. Während sie sich ein Bad einlaufen lässt, trinkt sie vor dem Fernseher bei einer Sendung über Raubvögel Kaffee. Der Trost, ihren Körper, der hier und da noch blaue Flecken von den Händen des Vaters trägt, in den Schaum gleiten zu lassen. Die erschütternde Erinnerung an die Orgasmen überkommt sie.
Vergessen ist hilfreich, es bewahrt einen vor der grausamen Sehnsucht. Das tote Kind vergessen, vor allem Dinge vergessen, dass es noch eine andere Welt gibt, ein Paradies im Freien, in das man sie nie wegen guter Führung entlassen wird. Einen Ort, aus dem man sie herausgerissen hat wie Gras, das den Stall nie mehr verlassen wird, bevor das Vieh es im kommenden Winter frisst.
Sie zwang sich, das Draußen zu leugnen. Ein Hirngespinst, ein Credo, ein Aberglaube, gegen den man ankämpfen muss, um sein Leben nicht als eine Illusion anzusehen. Das Unglück, sich vertrieben zu fühlen, sich vorzustellen, dass sein Leben eine stete Marter ist, eine Strafe, die man nicht den Mut hat auszusetzen, indem man beschließt, mit dem Atmen aufzuhören. Von dieser Vergangenheit, die da oben weiterging, wollte sie nichts mehr wissen.
Sie lebte wie ihre Familie da oben. Sie sagte sich, sie höre im Keller nur ein Echo, aber ein Echo aus der Vergangenheit. Der Straßenlärm, die rennenden Kinder, das Geplauder der Nachbarn, die Schreie, die Schläge – all das war höchstens eine Erinnerung an Geräusche, die sie in einer früheren Zeit gehört hatte und die ihr einfach nicht aus dem Kopf gingen.
Sie versuchte sogar, ihre Biografie zu leugnen. Ihre Mutter hatte sie im Labyrinth bekommen. Bevor sie gestorben war, hatte sie ihr Gutenachtgeschichten erzählt. Und indem sie es bei Petra genauso gemacht hatte, als sie gedacht hatte, Fritzl würde das Kind mitnehmen, hatte sie ihr eine Kindheit und Jugend ohne jede Grundlage eingeimpft, aber bunt, deutlich und mit ausreichend vielen Personen, um Petras Gedächtnis damit zu füllen.
Selbst Eremiten kennen lange Phasen der Unschlüssigkeit, in denen sie an der Existenz Gottes zweifeln und ihre Wahnvorstellungen für das Wahre halten, Zentauren für Männer mit Hufen, Jungfrauen werden von einem Eunuchen mit ausgestreckten Armen auf einem Tablett serviert. Angelika zweifelte oft, manchmal Tage, Monate, ein ganzes Jahr lang. Die Geräusche von oben waren perfide Trugbilder, die ihre Ohren täuschen wollten.
Sie wusste, dass die Wirklichkeit sie irgendwann einholen würde. Verbissen kämpfte sie weiterhin dagegen an wie die kleine Ziege des Monsieur Seguin in Alphonse Daudets Erzählung, die sich nach Freiheit sehnt und schließlich ausbricht. Am Morgen würde sie der Wolf fressen, aber sie gibt sich der Illusion hin, dass ihre Hörner es mit den funkelnden Reißzähnen des Wolfes im Mondschein aufnehmen könnten.
Angelika glaubte wieder an die Gespräche
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