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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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hatte den Leichnam auf einen barmherzigen Friedhof gebracht, in einen zeitweiligen Limbus, dem man entkommt, wenn man groß ist.
    Sie setzt sich. Sie zittert nicht, weint nicht, weder eine Klage noch ein Schrei entfährt ihrem Mund. Sie ist völlig fertig. Der Schmerz hat sie gebrochen. Das Kind wird wach, sie hört es nicht. Weder sieht sie es neben sich auf dem Tisch liegen noch kommt sie auf den Gedanken, es an ihre Brust zu drücken, damit es trinkt, anstatt dass Petra ihm Kuhmilch in den Mund träufelt.
    Der Tag vergeht um sie herum, sie hockt auf einem Sessel wie eine Uhr, die beim Trödler gelandet ist.
    Das Wochenende ist da. Immer noch schönes Wetter, es macht Lust auf ein Essen im Grünen. Zu Mittag ist die Glut so weit – Fritzl legt Würstchen und Koteletts auf den Grill. Anneliese stellt den Klapptisch auf.
    Plastikteller und -becher, abgenutztes Besteck, aber die Messer schneiden besser als die Finger. In der Mitte stehen ein Topf Kartoffeln in der Schale, ein Sechserträger Dosenbier und eine Karaffe Wasser, das in der Sonne schon lauwarm geworden ist. Die Kinder sitzen am Tisch. Anneliese umschwirrt ihren Mann wie eine Fliege und reibt sich die rauchgeröteten Augen.
    Der Sonntag wird mit einer Tasse Kakao und dicken Butterbroten beschlossen. Die Kinder gehen früh ins Bett. Fritzl verlangt von Anneliese, dass sie mit ihm eine Partie Karten spielt. Sie hat ein gutes Blatt und muss tricksen, damit sie verliert. Letztes Jahr hat sie gewagt, zu gewinnen. Er sagte zu ihr: Eine Frau, die schwindelt, könnte genauso gut einen Liebhaber haben.
    ,,In meinem Alter hat mich schon lange keiner mehr angeschaut.“
    ,,Manche Männer bumsen sogar mit Maultieren.“
    Im Fernsehen lief das Nachtprogramm – eine Sendung über das Blumenbinden, über Vasen und Sukkulenten. Darunter kauerten die Kinder, die Köpfe zum Bildschirm gereckt. Die Fernbedienung lag in ihrer Reichweite auf dem Hocker, aber das Gesetz des Kellers untersagte ihnen den Gebrauch.
    Die Bilder drangen in ihre Augen, in ihre Ohren drang wieder das Stöhnen ihrer Mutter auf dem Bett und manchmal das Gejammer ihres kleinen Bruders. Sie hatten sich angewöhnt, den Kleinen zu Angelika zu bringen. Sie zogen ihr den Pullover hoch bis zum Hals, legten ihr ihn an die Brust und drückten ihm die Warze in den Mund. Sie ließ es geschehen, ließ ihn gleichgültig saugen und setzte ihr Klagelied fort.
    Sie hatte weder gegessen noch getrunken. Zwischen ihren halb offenen Lippen eine belegte Zunge. Als das Baby satt war, legten die Kinder es wieder in die Kiste, und wenn es noch weinte, wickelten sie es in der Küche.
    Mit ernsten Gesichtern und präzisen Handgriffen kümmerten sie sich um das Baby wie um ein kleines Tier, ein verirrtes Hündchen, das sie gefunden hatten. Das Kind wurde umhergeschleift, von einem Zimmer ins andere getragen wie ein wertvoller, zerbrechlicher Gegenstand. Sie redeten mit ihm in der Sprache des Kellers, sangen ihm Abzählreime vor, die ihre Mutter ihnen früher aufgesagt hatte. Sie erzählten ihm Geschichten von Essen, Zuckerln, Coca Cola , das von der Decke fiel. Sie ahmten Vogelstimmen nach und das Wiehern von Pferden, die sie sonntagnachmittags immer unter den Anfeuerungen der Rennbahnbesucher durch ein smaragdgrünes Hippodrom galoppieren sahen.
    Sie aßen oft. Petra stand auf Zehenspitzen vor der Kochplatte und wachte über die kochenden Nudeln. Martin war mit dem Abgießen beauftragt. Dann streuten sie Salz darüber und rührten gewissenhaft um, bis die Butter zerronnen war. Ein Essen zu zweit. Bevor sie tranken, wischten sie sich den Mund ab, wie Angelika es von ihnen verlangte.
    Gedämpfte Gespräche, kurze oder endlose Sätze, die sie atemlos machten. Sie sprachen über den Regen, das schöne Wetter, das Klima im Keller wie ein Abbild des Klimas oben. Sie redeten über die Helden, die sie eines Tages werden würden, Truppen im Hinterhalt, Gefechte, aus denen sie oft verwundet und als Sieger hervorgingen.
    Fritzl mochte den trübseligen Anblick unten nicht. Sein Besuch ließ auf sich warten, auf dem Bildschirm vergingen ganze Tage und Nächte. Angelika stand vom Bett auf, strich den Kindern über den Kopf, streichelte dem Baby die Wange. Sie trank vom Wasserhahn und aß mit der Hand aus dem Topf, in dem die Kinder ihr ihren Anteil aufbewahrt hatten.
    Zärtlich betrachtete sie die Badewanne. Sie duschte wieder endlos. Am Ende war das Wasser kalt, aber sie ließ es dennoch über ihren zitternden Körper laufen.
    Angelika

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