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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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trösten. Sie sah Martin mit gerunzelter Stirn an wie eine Mutter, die das Verhalten ihres Mannes missbilligt, ihn vor dem Kind aber nicht tadeln will.
    ,,Das sage ich Papa!“
    Angelika wiegte ihn auf einmal nervös in den Armen, damit er es vergaß. Wenn er sich trotzdem erinnerte, beklagte er sich bei Papa, und Martin trug blaue Flecken von der Auseinandersetzung davon. Einmal wurde er sogar ohnmächtig, als Fritzls Fuß hart auf seinen Unterleib traf.
    Doch am übernächsten Tag machte Martin weiter.
    ,,Ich werde dir die Haut abziehen und Putzfetzen daraus machen.“
    ,,Ich schneide dir die Hände ab, damit du nicht laufen kannst.“
    ,,Mama hilft mir, dich zu skalpieren wie im Western.“
    Doch dieses Mal ging Petra dazwischen. Ihre Stimme war nicht laut genug, um Martin Angst zu machen – sie stürzte sich mit ausgefahrenen Krallen auf ihn. Als Martin sie schließlich in seine Gewalt bekam, hatte er Kratzer im Gesicht.
    Roman überstand diese Hänseleien unbeschadet. Sie konnten seine Lebenslust nicht dämpfen, und wenn das Gewitter vorüber war, war er wieder voll der Bewunderung für seinen älteren Bruder und voll der Zuneigung für Petra, die ihn jeden Tag liebkoste, ihm eine Geschichte erzählte, die sie selbst erfand, mit ihm Krieg spielte und so tat, als hätte ein Klaps von ihm sie getötet. So fühlte er sich wie ein Krieger.
    Dieses Kind war der Prinz im Keller. Fritzl wies ihn nur mit leiser und sanfter Stimme wie ein Windhauch zurecht. Selbst wenn der Vater nicht unten war, vermied Angelika es, die Hand gegen Roman zu erheben, aus Angst, der Vater, der jederzeit auftauchen konnte, könne Spuren davon sehen.
    Roman war zu klein, um sich auch nur im Mindesten an die große Hungersnot im Sommer 2004 zu erinnern. Jahre später sollte er das Urlaubsvideo aus Thailand sehen, das Fritzls Kumpel gedreht hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser liebende Vater sie zurückgelassen hatte, um sich am anderen Ende der Welt ein schönes Leben zu machen.
    Angelika erinnerte sich an die Urlaubsfotos, die Fritzl ihr unbedingt danach zeigen musste.
    ,,Das ist der schönste Strand der Welt. Die Mädchen sind arm und sie sind stolz, wenn sie die Haut von Männern aus dem Westen berühren können. Sie massieren wie die Weltmeisterinnen!“
    Er lächelte Martin schief an.
    ,,Und sie würden umsonst mit uns schlafen.“
    Roman hatte sich immer gefragt, ob nicht doch alle gelogen hatten. Vielleicht war dieses Filmchen ein Fake, ein gestellter Beweis von Fritzls Ungeniertheit, den die Polizei eigens für den Prozess erfunden hatte. Schließlich sollen die Schritte des ersten Menschen auf dem Mond ja auch in einem Studio in Los Angeles gedreht worden sein …
    Fritzl nahm Roman auf den Schoß und erzählte ihm vom Leben da oben. Ein Märchen, das den Fernsehbildern ähnelte. Roman hatte nie am Fernsehen gezweifelt – diese Welt existierte irgendwo, vielleicht direkt um den Keller herum wie die Oberfläche eines Planeten, in dessen Inneren sie lebten.
    Aber die Stimme des Vaters strahlte keine Bilder aus, nur Wörter, mit denen sein Gehirn machen konnte, was es wollte. Das, wofür diese Worte in seinem Kopf standen, wechselte; die Farben veränderten sich je nach Augenblick. Wenn Fritzl vergaß zu betonen, dass das Gras grün sei, sah Roman es blau, rot oder farblos.
    ,,Macht ein Gewitter denselben Lärm wie im Film?“
    Fritzl verstand nicht immer, was er sagte. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern, die beide Sprachen getrennt benutzten, versah Roman seinen Kellerkauderwelsch mit einzelnen deutschen Wörtern wie mit Luken, durch die Fritzl den ungefähren Sinn seiner Sätze erfassen konnte.
    ,,So ähnlich.“
    ,,Ähnlich?“
    Ein Wort wie ein Vogel.
    ,,Es ist das Gleiche.“
    Ein Ding wie ein Bett auf vier Füßen.
    ,,Ein ähnliches Ding.“
    ,,Ja.“
    Fritzl sorgte sich um die Zukunft des Kindes. Er fürchtete, später einen verwirrten Sohn zu haben, der oben und unten durcheinanderbringen, nichts von Physik verstehen und ein Y mit dem Quadrat über der Hypotenuse verwechseln würde. Er beschuldigte Angelika, das Gehirn des Prinzen zu vernebeln.
    ,,Vielleicht ist er ja ein Trottel.“
    Diese Mutmaßung brachte ihr einen Bluterguss an der rechten Wange und ein monatelang schmerzendes Trommelfell ein.
    ,,Man muss ihn ausbilden.“
    Ein halbes Jahr vor der Befreiung des Kellers fing Fritzl an, seinem Sohn beizubringen, wie man die Spreu vom Weizen trennt. Jedes Mal, wenn Roman einen ganzen Satz ohne ein einziges
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