Claustria (German Edition)
schlief neben ihr ein. Um zwei Uhr nachts weckte er Roman und drückte ihm einen Patriarchenkuss auf die Stirn. Als er die Stahlbetontür hinter sich zugemacht hatte, drohte Angelika, ihn das nächste Mal im Schlaf mit seiner Krawatte zu erdrosseln, auch wenn sie wusste, dass sie damit ihr Todesurteil und das ihrer Kinder unterschreiben würde.
Fritzl war schon weit durch die Röhre gegangen, er zuckte nicht einmal mit den Schultern. Seit Langem war er daran gewöhnt, dass sie hinter ihm herschimpfte, wenn sie sich vor Schlägen sicher fühlte.
,,Manchmal wollte ich einfach, dass Schluss ist mit allem. Dass er Schluss mit uns macht.“
,,Warum haben Sie nie versucht, ihn zu fesseln, wenn er schlief? Dann hätten Sie ihn foltern können, bis er Ihnen irgendwann die Türcodes verraten hätte.“
Sie sah den Geschworenen mit den langen, behaarten Ohren an, der ihr diese Frage gestellt hatte.
,,Dass ich ihn an jenem Tag nicht umgebracht habe, lag vielleicht daran, dass es so heiß war. Ich dachte an seine Leiche, die in der Hitze verwesen würde. Dann wären wir im Gestank erstickt.“
Sie verstummte. Danach bat sie den Gerichtsdiener, ihre Zeugenaussage weiter auszustrahlen. Mehrmals hatte sie ihm ein Zeichen gegeben, das Videoband zu stoppen, damit sie live antworten konnte. Das Gericht gab ihr statt. Wenn der Anwalt der Verteidigung es wagte, ihr eine hinterhältige Frage zu stellen oder kurz einen Witz zu reißen, über den nur Fritzl lachte, brachte sie ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Am nächsten Tag herrschte oben in der Wohnung absolute Stille. Jeden Tag läutete Angelika die Sturmglocke, sie schlug so an die Rohre, dass die Verankerungen aus der Wand sprangen. Die Familie war weg, Fritzl auch, die meisten Apartments waren verlassen, denn die Mieter flüchteten in den Ferien aus diesem komischen Haus. Angelika fürchtete schon, die Familie sei umgezogen. Vielleicht hatte Fritzl das Haus verkauft. Wenn der neue Eigentümer das Objekt beziehen würde, wären sie da unten längst tot.
Nachbarn und Passanten dachten nur an ihre Badesachen und scherten sich einen Dreck um den Lärm. Die Familie war nicht umgezogen, Angelika hätte den Möbeltransport gehört. Zu Schulbeginn Ende August kämen sie wieder zurück. Aber vielleicht hatte Fritzl auch ihr Schimpfen satt und würde sie bei seiner Rückkehr verrecken lassen.
Angelika bekam Angst, als Fritzl zu Weihnachten wieder damit drohte, Roman mitzunehmen.
,,Er ist mein Erbe. Er muss zur Schule gehen, dann besucht er die Hochschule und wird eines Tages Ingenieur wie ich.“
Sie schluckte ihre Wut, ihre Tränen hinunter. Sie brach nicht zusammen wie eine Schauspielerin in einem Melodram, die es sich erlauben konnte, zu plärren, weil sie die letzte Szene bereits gedreht hat, in der ihr Peiniger im Kugelhagel der Polizisten stirbt.
Angelika kannte das Ende nicht. Aus Angst, ihn wütend zu machen, sodass er mit dem Kind ginge und nie wieder zurückkäme, deckte sie weiter gleichmütig den Tisch, polierte Gläser mit einem Tuch, las den Aufdruck auf dem neuen Shampoo, das er ihr gerade gebracht hatte.
,,Wie du willst.“
Seufzend setzte er sich.
,,Er muss eines Tages unbedingt hinauf. Ich werde alles tun, damit ich ihn adoptieren kann.“
Von Petras und Martins Zukunft sprach er nie – Angelika hatte begriffen, dass er ihnen keine ermöglichen würde. Es war ihr Schicksal, zusammen mit ihrer Mutter zu sterben, sollte Fritzl hier, oben oder in einem Krankenhausbett einem Infarkt, einem geplatzten Aneurysma oder einer langen Krankheit erliegen.
Der August verging. Die Vorräte wurden knapper, Angelika rationierte sie. Sie war sich sicher, dass Fritzl Roman wiedersehen wollte. Dass er zumindest noch ein letztes Mal käme, um ihn abzuholen.
Am 23. August hörte sie ihre Mutter mit den Kindern zurückkommen. Sie hörte, wie die Koffer in den Hauseingang geworfen wurden, hörte laute Stimmen. Sie erkannte Sophies und Sabines Rufe und Julius’ fröhliches Gerenne im Treppenhaus. Dann stellte Annelieses Geschimpfe die Ruhe wieder her.
Fritzl kam am frühen Morgen des 27. August zurück. Er hatte die Angewohnheit, die Haustür zuzuschlagen und laut Servus zu rufen, damit auch ja jeder aufwachte.
Angelika wartete bis zum Abend, aber er kam nicht. Tag um Tag verzichtete er darauf, nach unten zu gehen. Sie traute sich nicht, einen Mucks zu machen, sie stellte sogar den Fernseher leise, damit er nicht sauer wurde, wenn er wieder und wieder die Erkennungsmelodie
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