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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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Kellersoziolektwort bildete, bekam er ein Zuckerl. Das geköderte Kind machte Fortschritte, und seine Mutter beklagte sich, weil er so mit Süßigkeiten verwöhnt wurde, dass er bei Tisch keinen Appetit mehr hatte.

Fritzl hätte aus dem Keller gern eine Arche Noah gemacht. Mit Exemplaren aller Tierarten von kleiner Statur. Am Ende war es eine klägliche Arche. Außer Ratten gab es dort nur noch den Goldfisch, der sich Tag und Nacht verstört im trüben Wasser der Salatschüssel drehte, die man ihm als Unterkunft gegeben hatte.
    Seit mehreren Jahren schon wollte Angelika eine Katze, die mit den Nagern aufräumen würde.
    ,,Eine Katze miaut und kratzt Roman.“
    ,,Besser, als von Ratten gebissen zu werden!“
    Aber Fritzl fühlte sich zu kurzatmig, um dosenweise Futter und säckeweise Katzenstreu zu schleppen. Eines Samstagmorgens im Dezember kam er mit einem kleinen Plastikkäfig an, in dem ein Vogel zwitscherte. Er stellte ihn auf die Abtropffläche des Spülsteins. Roman hüpfte umher und wollte ihn fangen, Fritzl nahm seinen Sohn auf den Arm und flüsterte mit ihm.
    Roman erkannte das Tier als Vogel, er hatte schon einen im Zeichentrickfilm gesehen.
    ,,Ist das Tweety? Hast du ihn gestohlen?“
    ,,Das ist ein Kanarienvogel.“
    ,,Das ist Tweety.“
    Als er am nächsten Tag sah, dass Tweety den Zeichentrickfilm nicht verlassen hatte, war er enttäuscht. Der Kanarienvogel musste dessen Bruder, Neffe, ein entfernter Vetter sein. Wenn er seinen Vater um den Kater Sylvester bitten würde, würde dieser sich vielleicht breitschlagen lassen, aber er mochte dieses Vieh nicht, das Tweetys Doppelgänger angreifen würde. Angelika dachte nicht daran, Roman einzureden, dieses Alter Ego einzufordern, das unverzichtbar war, um den Zeichentrickfilm live nachzuspielen, und das ihr geholfen hätte, Jagd auf Nagetiere zu machen.
    Am Schwanz hatte der Kanarienvogel einen orangeroten Fleck. Roman nannte ihn trotz allem weiterhin Tweety. Er kletterte auf die Spüle, machte den Käfig auf und holte ihn heraus. Es war etwas Warmes wie die Ratten, die Martin manchmal fing. Er ließ Roman über ihr Fell streichen, bevor er sie an der Wand platt drückte. Angelika tobte, wenn sie die Spuren beseitigen und die Flecken mit einem Stahlwolleschwamm abkratzen musste.
    Tweety entkam irgendwann Romans Griff und flatterte davon. Der Vogel war in der ersten Zeit so benommen, dass er die niedrige Decke nie erreichte. Die Kinder liefen ihm hinterher, konnten ihn aber nicht einfangen. Angelika hatte es satt, Listen zu erfinden, damit er freiwillig in seinen Käfig zurückkehrte.
    Der Keller war Tweetys Voliere. Eines Abends setzte er sich auf Fritzls Schulter, der gerade anderweitig beschäftigt war. Fritzl schrie auf. Der Vogel flüchtete sich auf den Schirm der Nachtkästchenlampe. Dieser auf Fritzl gerichtete Schnabel zwischen den funkelnden Äuglein – seine Erektion fiel in sich zusammen. Fritzl rieb sein schlaffes Glied, bekam es aber nicht mehr steif.
    Er verfolgte den Vogel, rempelte Martin an und stieß mit dem Knie an Petras Stirn, als er das Licht anmachte. Tweety verhöhnte ihn, er war schneller als Fritzls Faust und flatterte von Möbel zu Möbel. Fritzl ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Rot vor Zorn verschwand er, er war wütend, weil er das Tierchen nicht zerquetschen konnte.
    Nach zwei Jahrzehnten Gefangenschaft schien die Rückkehr an die Luft nah zu sein. Fritzl redete immer öfter davon: ein triumphaler Exodus aus dem Keller, bei dem er endlich seine Nachkommenschaft vorzeigen könnte. Eine Kellersekte, eine Wandersekte, die von Höhle zu Höhle zog und mit bloßen Händen durch Erdschächte kletterte. Sie würde bei Anthropologen berühmt werden. Ganze Bücher würden von dieser Lebensweise handeln, die selbst die Höhlenmenschen nicht gekannt hatten.
    ,,Die Kinder werden warten, bis ich tot bin, dann werden sie der Presse den Keller zeigen.“
    Fritzl war überzeugt, dass er hundert Jahre alt werden würde. Er würde Angelika und die anderen Kinder von Anneliese begraben.
    ,,Gott wird mir ein langes Leben schenken.“
    Angelika hatte genug davon, den Kindern Gott nahezubringen. Der Alte war verschwunden, hatte sich in die Unendlichkeit des Firmaments verzogen. Ein armer, ohnmächtiger Tropf, dessen Güte niemals ihr Leben im Keller ungeschehen machen könnte. Kein Paradies könnte sie je die Jahre in der Hölle vergessen machen, einer Hölle, die ihr bereits fehlte.
    Ende November 2007 kündigte Fritzl ihren
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