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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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musste über Kartons steigen, in der Küche im Kreis rennen und durch den engen Gang laufen. Angelika klatschte Beifall, wenn er schließlich rot, schwitzend und außer Atem im Elternschlafzimmer ankam, wo sie als Ziellinie ein goldenes Geschenkband auf den Boden geklebt hatte.
    Als er drei wurde, machte sie jeden Morgen eine Viertelstunde Gymnastik mit ihm. Sie hob seine Knie an, beugte seinen Oberkörper, machte Liegestützen, um ihm als Beispiel voranzugehen. Sie war froh, ihm teilweise das Sportprogramm beibringen zu können, das sie selbst schon seit Jahren durchzog.
    Roman turnte gern. Währenddessen hatte er seine Mutter für sich, er bekam das Gefühl, kiloweise das Fleisch zu verlieren, das Martin immer zum Abendessen verspeisen wollte, und hatte den Eindruck, kräftiger geworden zu sein, wenn Angelika ihn nach dem Sport unter die Dusche stellte.
    Er beugte den Arm und zeigte seinem Bruder seinen Bizeps.
    ,,Ich hab’ Muskeln.“
    Er erntete Hohn und lachte zusammen mit Martin, weil er dachte, der Bruder spotte aus Neid.
    Die Zeiten des Hungers bewirkten kaum, dass das Völkchen abmagerte. Als Fritzl nach seiner Thailandreise wiederkam, tätschelte er jedem den Hintern und schloss daraus, dass dem Organismus in Abgeschiedenheit ein paar wenige Kalorien ausreichten.
    ,,Es sei denn, die schlechte Luft nährt euch. Anstatt all dieses Fressen herunterzuschleppen, könnte ich euch einfach von Zeit zu Zeit einen Sack Mehl bringen.“
    Das Mehl würde Angelika mit Wasser verrühren und ihre Familie damit füttern wie Geflügel. Lächelnd wackelte sie mit den Hüften und tat so, als sei sie Fritzls Meinung, damit sie ihn nicht brüskierte und er seine Drohung in die Tat umsetzte.
    Fritzl kratzte sich am Kopf.
    ,,Ich könnte ein System erfinden.“
    Er wurde es zunehmend müde, den Packesel zu spielen. Er hatte die vage Idee, den Keller mit einem Behälter zu verbinden, den er direkt darüber im Garten aufstellen wollte. Ein Zuber mit einem Stahldeckel, den er als neue Reinigungspumpe für das Wasser im Pool ausgeben würde. Getreide, Zucker, Milch und Hülsenfrüchte würden aus einer Tülle über der Spüle kommen. Ein reichhaltiges, ausgewogenes Pulver, das Angelika nur mit Wasser anrühren müsste und von dem sie sich ernähren könnten wie die Bewohner einer Weltraumstation.
    Den Bottich würde er immer wieder füllen, aber er wäre so groß, dass er den Keller ein ganzes Jahr lang ernähren könnte, sollte Fritzl auf die Idee kommen, zur Feier seines siebzigsten Geburtstages allein auf Weltreise zu gehen.

Fritzl war stolz auf Romans Zeichnungen. Figuren mit vieleckigen Gesichtern, Hunde mit rechteckigem Körper und mit Pfoten wie Pflöcken, Dörfer mit quadratischen Häusern und einem Henkel auf dem Dach – sicherlich, damit verirrte Fremde das Dach anheben und sehen können, was drinnen auf dem Herd kocht.
    Ihm gefiel die kubistische Anmutung von Romans Werken.
    ,,Dieses Kind wird Beton lieben!“
    Fritzl fotografierte selbst das letzte Gekritzel. Was ihm bemerkenswert erschien, druckte er aus. Die Polizei fand ein Bild, das er gerahmt aufs Regal in seinem Erdgeschossbüro gestellt hatte: ein Lamm mit einem Fell wie ein Schachbrett, mit langen Beinen und Schuhen.
    Wenige Tage nach seiner Befreiung brachte man das Bild zu der Psychologin, die Roman betreute. Die Fenster ihres Büros hatte man verhängt, damit Roman nicht anfing zu heulen, wenn er durch seine dunkle Brille die Weite des Tages entdeckte.
    Sie drehte und wand das Bild in alle Richtungen und deutete mit einem Stift auf bestimmte Details.
    ,,Kinder haben selten eine so vielschichtige Sicht der Welt.“
    Angelika wollte unbedingt bei der Therapie dabei sein.
    ,,Ist das ein Zeichen von Intelligenz?“
    Die Psychologin wedelte unschlüssig mit dem Stift.
    ,,Warum nicht?“
    ,,Wird er sich normal entwickeln?“
    ,,Mit fünf Jahren ist seine Psyche schon weitgehend strukturiert.“
    ,,Und?“
    ,,Im Moment kann man noch nicht verbindlich sagen, wie er sich entwickeln wird.“
    Angelika beschloss, dass die Psychotherapie damit beendet war.
    Die junge Frau sah sie über den Gang weggehen, hinter ihr das Kind, das versuchte, ihr auf zwei Beinen zu folgen. Seit Roman wieder an der Luft lebte, hänselte Angelika ihn immer und nannte ihn ein Hündchen, wenn er sich gehen ließ und seine Hände als zwei zusätzliche Beine benutzte.
    Der Professor, der die Station leitete, wollte Angelika unbedingt umstimmen, aber sie blieb lange unbeugsam.
    ,,Ihm fehlen nur
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