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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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am Anfang des Werbeblocks hören musste.
    ,,Ich muss diesen alten Fernseher austauschen, er hat wohl Schluckauf.“
    Selbst wenn der Apparat oben auf einen anderen Sender eingestellt war. Selbst wenn er ausgeschaltet war.
    Unten wurde die letzte Packung Reis angebrochen. Angelika hielt die Kinder weiterhin dazu an, noch leiser zu sein als der Kühlschrank. Aber sie fürchtete auch, dass die Stille ihr Überleben durchkreuzen könnte. Wenn Fritzl sie nicht hörte, dachte er vielleicht, sie wären tot.
    Wenn wegen eines Rohrbruchs im Viertel das Wasser ausbleiben würde, weil die Stadtverwaltung, die während der Ferien nur in Notbesetzung arbeitete, eine Woche für die Reparatur bräuchte, würden sie verdursten, nachdem sie ihre letzten Schweißtropfen aufgeleckt hätten. Fritzl würde bestimmt nicht herunterkommen, die Leichen herausholen und der Polizei die abenteuerliche Geschichte erzählen, dass er diese vier Toten vor der Tür gefunden hätte, zusammen mit einer Nachricht des Gurus, dass die Sekte nicht für die Bestattung ihrer Schäfchen sorgen könne.
    Fritzl bemühte nur selten seine Vorstellungskraft. Dieses Instruments bediente er sich nur, um ein berufliches Problem zu lösen, um seine unzähligen Immobilienprojekte auf die Beine zu stellen, die größtenteils scheiterten, oder um in den vier Wänden seines Erdgeschossbüros vergebens an der Rezeptur des neuartigen Betons herumzutüfteln, den er entwickeln wollte. Aber um sich den Kopf umsonst zu zermartern, verschwendete er diesen Treibstoff nicht.
    Er stellte sich gar nichts vor, er ging seinen Beschäftigungen nach. Frühmorgens verließ er das Haus und fuhr durch die Gegend auf der Suche nach leer stehenden Häusern, Grundstücken am Straßenrand, Baulücken in einem Dorf, wo er ein großes Mietshaus aus Fertigteilen mit einem Dach aus Kunstschiefer hochziehen könnte. Er hielt sich für einen Wolf, der Geld schon von Weitem witterte.
    Am Spätnachmittag kam er zurück, frischte auf der Dachterrasse seine Bräune auf, bastelte in der Garage. Angelika hörte auch, wie er im Pool einen Wutanfall bekam und die Kinder anschrie, sie sollten den Ball holen, damit sie eine Partie Wasserball spielen könnten.
    Er hatte sie da unten vergessen, aber sie existierten weiter am Rande seines Bewusstseins – Verwandte, die eine schwere Zeit durchmachen, die man aber am Leben weiß und denen man seinen eigenen Alltag, seine kleinen Freuden und das unsägliche Vergnügen vorzieht, sich dabei zu erleben, wie man nacheinander all die kleinen Probleme löst, die selbst die friedlichsten Tage durchziehen.
    Fünf Tage strahlenden Sonnenscheins vergingen seit seiner Rückkehr. Manchmal dachte Fritzl daran, in den Keller zu gehen, aber diese Kloake, die in dieser Hitze den Höhepunkt des Gestanks erreicht haben musste, machte ihm nicht gerade Lust.
    Hätte er eines Morgens nicht das Wäschepaket gesehen, das Anneliese oben auf das Regal gelegt hatte, als sie seinen Koffer ausgeräumt hatte, wäre er vielleicht nie wieder hinuntergegangen. Die Wochen verstrichen schnell. Er hätte die Kellerfamilie wirklich am liebsten aus seinem Kopf verbannt, anstatt zu riskieren, sie unten verhungert vorzufinden. Romans Leiche zu sehen, hätte ihm missfallen.
    Die Vorstellung von Angelika, bekleidet mit seinen Einkäufen, machte ihn scharf. Auch Petra könnte die Sachen anprobieren. Mutter und Tochter, Tochter und Enkelin.
    Gegen achtzehn Uhr ging er hinunter. Er nahm einen Karton Lebensmittel mit, damit Angelika ihm vor dem Fest ein Abendessen kochen könnte.
    Angelika war so weit, dass sie auf eine Ratte wartete – eine wunderbare Fügung für die Hungerleidenden. Aber seit es kein Essen mehr im Keller gab, kamen die Tiere nicht mehr. Bestimmt fanden sie es der Mühe nicht wert, ihren Hals zu riskieren, nur um Pappe anzuknabbern.
    Als die Tür aufging, war Angelika so glücklich wie eine Abgestürzte in einer Felsspalte, die von einer Lawine mitgerissen, anschließend von einer Rettungsmannschaft gefunden worden war und nun plötzlich den Himmel wiedersah. Fritzl würde ihr keine Rettungsleine zuwerfen, damit sie wieder an die Erdoberfläche klettern konnte, aber er würde ihr das Leben bringen. Eine Galgenfrist, ausreichend Nahrung, um die Mägen zu füllen und ihre Existenz in diesem beengten Universum zu verlängern, in dem die Unendlichkeit auf dem Fernsehbildschirm erschien.
    Es folgten ein liederlicher Abend und eine scheußliche Nacht. Doch Angelika zog sie allen vergangenen
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