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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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bevorstehenden Auszug an.
    ,,Seit ich deiner Mutter den Brief gegeben habe, erschrickt sie bei jedem Klingeln.“
    Im Frühjahr hatte er Angelika einen Brief diktiert. Darin teilte sie ihrer Mutter ihre Absicht mit, mit ihren drei Kindern die Sekte zu verlassen und ins Elternhaus zurückzukehren. Aber Angelika hatte sich gehütet, an eine Befreiung zu glauben. Sie musste an das unwahrscheinliche Bild des Kellervölkchens vor der Haustür denken. Verblasste Gestalten, deren Nichtsein das helle Tageslicht noch betont hätte. Zwei Männchen und zwei Weibchen wie Löcher, die der Scharfblick der Realität schnell weggewischt und mit dem Bild des Gehsteigs, der Hausfassaden am Horizont und einem seilhüpfenden Mädchen mit einem Lutscher im Mund zwischen zwei Autos gefüllt hätte.
    Wenn Fritzl sie seiner Frau präsentieren würde, würde sie diese unsichtbare Familie, die sich durch die Wohnung schleppen würde, gar nicht wahrnehmen.
    ,,Das ist eure Großmutter, umarmt sie.“
    Petra und Martin würden gehorchen, um der Ohrfeige zu entgehen, zur Strafe für die Schmach, das Wort des Vaters angezweifelt zu haben. Roman würde sich verängstigt und stumm an Angelikas Arm klammern.
    ,,Du musst den Umzug vorbereiten.“
    Angelika stellte sich ein Dutzend Kartons auf dem Gehweg vor, voll mit alten Klamotten, Spielzeug, dem Fernseher und dem Mixer, eingepackt in Müllsäcke. Eine Sekte Umherziehender, die ihren Ramsch unter der Erdoberfläche herumschleppten und nie lange genug im selben Loch blieben, um Zeit zu haben, alles auszupacken.
    Fritzl fing an, löchrige Kleider und noch neue, aber verschimmelte Sportschuhe hinaufzutragen – die Kinder trugen selten Schuhe, sie krabbelten lieber barfuß umher – sowie Porzellanscherben von hinuntergefallenen Tellern und Schüsseln, die nie wieder zusammengeklebt worden waren. Aussortieren alten Plunders, wie es Hausfrauen früher bei jedem Frühjahrsputz unternahmen.
    ,,Zu Weihnachten geht ihr hinauf.“
    Eine Art Krippe mit einem vierjährigen Jesus, Petra und Martin als Ochs und Esel. Und Baustoffingenieur Josef Fritzl würde den Zimmermann aus Nazareth mimen.
    ,,In dieser kurzen Zeit schaffe ich es nicht, alle unsere Sachen einzupacken.“
    ,,Oben haben wir alles, was wir brauchen. Nimm nur Kleider zum Wechseln mit.“
    ,,Aber vorher muss ich noch alles waschen.“
    ,,Bist du verrückt?“
    Sie hob ein bisschen Erde auf, die zwischen den Deckenlatten hindurchgefallen war.
    ,,Warum reparierst du nie etwas? Ständig putze ich, und trotzdem meint man immer, in einem Schweinestall zu leben.“
    ,,Ich sperre den Keller hinter euch ab, und so bald macht ihn niemand mehr auf.“
    Eine Szene folgte. Fritzl gab nach, er versprach ihr, mit ihrer Befreiung noch bis zum Frühjahr zu warten. Erleichtert ging Angelika vor ihm auf die Knie, um ihm zu danken. Müde stopfte er sein Hemd wieder in die Hose, bevor sie überhaupt angefangen hatte.
    Er ging, ohne seine Portion Schweinsbraten zu essen, der im Bräter schmorte. Angelika freute sich, dem Exil entkommen zu sein. Sie umarmte ihre drei Kinder, bevor sich alle zum Essen zu Tisch setzten.
    Als Petra einen Monat später krank wurde, bereute Angelika ihre Widerspenstigkeit.
    ,,Aber du wolltest doch, dass wir im Dezember hinaufgehen!“
    Fritzl hatte seine Meinung geändert.
    ,,Wir müssen warten, bis sie wieder gesund ist. Wir sind eine robuste Familie. Ich will nicht, dass du mit einer Tochter auf einer Trage ankommst.“
    Fritzl hatte auch Angst vor einem Arztbesuch. Der Arzt wäre befremdet, weil Petra nicht krankenversichert und in so schwächlicher Verfassung war und weil Martin und Roman so dick waren, dass ihre zarten Knochen ihr Fett kaum trugen.
    Roman war schneller dick geworden als die anderen Kinder. Schon mit sechs Monaten war er fett. Mit einem Jahr war er eine Kugel, die sich kaum aufrichten konnte, wenn seine Mutter ihn an der Hand nahm, damit er laufen lernte.
    Manchmal setzte sie ihn auf Diät und schickte ihn mit ein paar Tropfen Hustensaft statt einem Abendessen ins Bett. Davon wurde er ganz benommen. Tagelang lag er reglos auf dem Boden, umgeben von Spielsachen, die Angelika vergebens vor ihm schüttelte, damit er aus seiner Lethargie erwachte.
    Nach einer Woche Kur war er noch schwerer und noch dicker. Aufgedunsenes Gesicht, Buddha-Bauch, Schenkel, die Martin in dünne Scheiben zu schneiden drohte wie Schinken.
    Sobald Roman laufen konnte, wechselte Angelika die Strategie. Sie organisierte eine Art Hindernislauf. Roman
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