Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
Vom Netzwerk:
Abenden und Nächten vor, als alle Kohldampf hatten.

Vor Romans Geburt wurde nicht jedes Jahr Weihnachten gefeiert. Im Jahr 2000 ging Fritzl nicht hinunter. Die Vorräte waren fast zu Ende, als Festessen gab es Spaghetti und Omelette, umgeben von einer Lichterkette, die in der Dunkelheit blinkte. Bilder von Geschenken, die Angelika in der Nacht zuvor gemalt hatte. Eine Puppe mit rotem Kleid und einem Hut aus Spitze, ein Laster mit Plane, die Vorderreifen oval, die Hinterreifen wie durchhängende Vierecke. Für sie selbst die Skizze eines Perlencolliers, das sie zehn Jahre später im Schaufenster eines Juweliers in Wien sehen und auf der Stelle kaufen sollte.
    Zu Weihnachten 2003 gab es das erste Mal Truthahn. Der Backofen im Keller war zu klein dafür, Fritzl bat Anneliese, ihn zu braten.
    ,,Für ein Silvesterfest mit Freunden.“
    ,,Was für Freunde?“
    Er hatte schon lange keine mehr.
    ,,Dieselben wie letztes Jahr.“
    Und gleich meinte sie, sich an den Truthahn von 2002 zu erinnern.
    ,,Ja, ich erinnere mich.“
    ,,Du lügst – letztes Jahr habe ich Getränke mitgebracht.“
    ,,Stimmt, Getränke.“
    Sie wickelte das goldbraune Geflügel in Alufolie.
    ,,Schneide es auseinander.“
    Sie gehorchte.
    Angelika musste das Fleisch nur auf kleiner Flamme aufwärmen.
    Silvester mit Papierhüten. Die Kiste mit dem schlafenden Roman wurde in der Küche auf einen Sessel gestellt. Konfetti, Luftschlangen. Fritzl trug eine Art Dogen-Kappe mit Sternchen und wackelte über das Baby gebeugt mit dem Kopf, das vor Schreck alle Tränen seines Körpers vergoss.
    Er nahm es auf den Arm und trug es im Stechschritt im Keller umher, dabei sang er ihm ein Schlaflied im Marschtempo. Angelika begleitete ihn klatschend. Roman beruhigte sich schließlich und schlief trotz des Missklangs auf Fritzls Arm ein.
    Das Abendessen zog sich bis Mitternacht. Sogar die Kinder waren betrunken. Roman blieb allein in der Küche. Die anderen zogen sich ins Schlafzimmer zurück. Grauenhafte Szenen auf dem Bett vor einem abgeschmackten schwedischen Sexfilm aus den Siebzigerjahren. Als Hintergrundgeräusch eine hingepfuschte Synchronisation, punktiert von Fritzls Schreien, die einen Ochsen betäuben konnten.
    Roman war ein lebhaftes, munteres, lachendes Kind, seine Tränen kamen plötzlich, kurz, heftig wie Schauer. Seit er sprechen konnte, spielten Petra und Martin ihm Streiche. Sie versteckten seine Spielsachen und behaupteten, ein Wichtel sei nachts gekommen und habe sie geholt.
    ,,Ein Wichtel, der ausgesehen hat wie eine goldene Ratte.“
    Zwei-, dreimal die Woche verschwand sein Bär im Lüftungsschacht.
    ,,Das glaube ich nicht.“
    ,,Du hast recht, die Lüftung hat ihn gefressen, mit ihrem Gitter wie Zähne.“
    Sie zeigten ihm die Zuckerstücke, die sie aus dem Schrank stibitzt hatten.
    ,,Wir haben auch eines für dich.“
    Dann rissen sie es ihm wieder aus dem Mund.
    ,,Das ist Gift für kleine Kinder! Wenn du es geschluckt hättest, hättest du dich in einen Kuchen verwandelt und Mama hätte dich in den Backofen geschoben.“
    Ein Märchen, erzählt in der Kellerkindersprache, der ersten Sprache, die Roman lernte. Dank dem Fernsehen und der Sturheit seines Vaters verstand er jedoch auch Deutsch, als er befreit wurde. Ein Jahr später sprach er es fließend, würde aber wie seine Schwester und sein Bruder noch sein Leben lang Konjugations- und Deklinationsfehler machen.
    ,,Du bist dumm und hässlich wie ein Pferd!“
    Sie lachten über Romans Kummer. Wenn er sich bei Angelika beschwerte, bestrafte sie manchmal Petra. Martin betrachtete Angelika seit seiner Pubertät als Familienoberhaupt, wenn Fritzl nicht da war. Hätte sie Martin geschlagen oder ausgeschimpft, hätte das in ihren Augen dessen Ansehen untergraben. Den trügerischen Status, den sie Martin zuschrieb, fand Angelika tröstlich.
    Während Petra auf Knien in der Speisekammer brütete, stieß Martin weiter in die Wunde.
    ,,Du bist ein Findelkind.“
    Roman in Tränen sah seinen Bruder gespannt an, damit dieser ihm die ganze Wahrheit über seine Herkunft enthüllte.
    ,,Du bist ganz allein hinter der Luke geboren worden. Papa hat dich aufgehoben, weil er gedacht hat, du bist ein Kotelett. Mama hat Mitleid mit dir bekommen, als du in der Pfanne gebrüllt hast.“
    ,,Das glaube ich nicht.“
    ,,Du bist halb gebraten.“
    Martin hob Romans T-Shirt an. Auf dem Bauch hatte er ein großes Feuermal.
    ,,Sie hat dich auf dem flachen Bauch gebraten.“
    Angelika nahm Roman in den Arm, um ihn zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher