Claustria (German Edition)
fallen zu lassen, wo sie sich den lieben langen Tag räkelt wie in der guten alten Zeit der Könige, die nur auf der faulen Haut lagen.“
Gretel ließ sich von seinem Wunsch mitreißen, Fritzl zurückzuerobern. Er war sich der Absurdität seiner Worte nicht bewusst, so durchdrungen war er von seinem Hass auf Angelika. Ganz allgemein fand er, dass die Gesellschaft Frauen überbewertete und ihnen im kollektiven Unterbewusstsein dieselbe Macht zuschrieb wie Feen, den hell strahlenden Pendants der Hexen.
„Wenn man Ihnen überhaupt etwas vorwerfen kann, dann, dass Sie von schuldhafter Nachsicht waren.“
Der Balztanz, dem Gretel sich seit einer Weile hingab, zeigte auf einmal Wirkung. Fritzl drehte sich um und sah den Anwalt an wie am Abend ihres ersten Treffens: mit demselben Vertrauen in seine Fähigkeit, ihn aus dieser Klemme herauszuholen.
„Sie hätten strenger sein können oder wenigstens konsequenter. Sie haben sich eher wie ein nachgiebiger Großvater verhalten als wie ein unbarmherziger Vater. Zu viele Feste, zu viele Geschenke, zu viele Umarmungen. Man verwöhnt die Seinen nicht ungestraft, und Sie werden Ihr Leben lang den Preis für Ihre Weichherzigkeit bezahlen müssen. Es wäre eher gerechtfertigt, Sie als Kindernarr zu bezeichnen und nicht als Kinderschreck. Freilich eine ärgerliche Nachgiebigkeit, die aber heutzutage in der Kindererziehung weit verbreitet ist.“
„Dennoch finde ich, dass ich meinen Pflichten nachgekommen bin.“
„Und genau das werde ich in meinem Plädoyer auch aufzeigen. Ich provoziere Sie, aber nur aus der Gewohnheit heraus, die Hegelsche Dialektik anzuwenden, die mir mein Philosophieprofessor im Rhetorikseminar eingebläut hat. Mögen Sie Hegel, Herr Fritzl?“
„Wenn ich nachsichtig mit den Kindern war, dann nur, weil ich nicht mit ihnen auf Urlaub fahren konnte.“
„Sie sind nicht zur Schule gegangen, sie haben keinerlei berufliche Tätigkeit ausgeübt, sie waren nicht einmal gezwungen, ihr Taschengeld mit einem Ferienjob aufzubessern. Papa hat ja immer gleich die Geldbörse gezückt und jeden Wunsch befriedigt. Sie hatten de facto doch das ganze Jahr Urlaub.“
„Ich hätte ihnen gern den Garten gezeigt.“
Dieser Plan war Fritzl öfter durch den Kopf gegangen. Wenn Anneliese und die Kinder von oben einmal nicht zu Hause wären, wollte er einen Ausflug in die Wirklichkeit organisieren. Aber Angelika fürchtete, die Sonne könne sie blenden.
„An einem Tag mit schlechtem Wetter.“
„Das Sonnenlicht dringt trotzdem durch die Wolken.“
„Wir können nachts ein Picknick machen, ich lasse die Kinder die Bäume befühlen.“
Angelika würde Brote schmieren. Die Kinder würden ihrem Vater, der den Rucksack mit der Jause trägt, auf allen vieren folgen. Am Ende des längsten Weges ihres Lebens würden sie in der Wirklichkeit ankommen. Sie würden nicht wissen, wie sie Treppenstufen bezwingen sollten, und den Rasen für das feuchte Haar einer riesigen Mutter halten. Sie würden zurückkommen wie vom Blitz getroffen – Verrückte, die auch kalte Duschen nie mehr heilen könnten.
Vor allem hatte Angelika Angst, dass sie keinen je mehr wiedersehen würde. Dieser Ausflug war ein teuflischer Plan, um Anneliese die Kinder anzudrehen – wie schon die anderen. Sobald sie oben wären, würde Fritzl ihr Strom und Wasser abstellen. Sie würde an Entkräftung sterben, nachdem sie stundenlang vergeblich im Dunkeln gebrüllt hätte. Von ferne würde sie die Geräusche der Hausbewohner hören, die zur Antwort weiter ihren Beschäftigungen nachgehen und ihr damit zeigen würden, dass sie nichts gehört hätten.
Angelika fürchtete, dass die Kinder abhauen könnten.
Zwischen den Thujen hindurch würden sie in die Stadt laufen. Autos würden sie für Bilder halten, sie würden sich darauf stürzen, um durch sie hindurchzugehen. Man würde sie für leichtsinnige kleine Clowns halten, die auf dem Platz herumschwirrten, mit blutigen Händen, weil sie über den Asphalt krabbelten. Sie würden zur Brücke gelangen, sich mit gesenktem Kopf auf die Brüstung ziehen, und wenn einer von ihnen darübergeklettert wäre, würden sich alle in die Ybbs stürzen wie Panurgs Schafe.
„Sie hat die Kinder zu sehr verhätschelt.“
„Sie hat aus Ihren Kindern Schlappschwänze gemacht! Ihre Tochter ist vor allem durch eine Mangelernährung ohne ausreichend Obst und Gemüse krank geworden. Diese österreichische Unart, sich am Familientisch mit Kartoffeln, Schweinefleisch sowie mit fett-
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