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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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vermeiden war, dass es eng zuging, hätte sie die Kinder vor den Dämonen schützen sollen, die hinter jedem Rock herjagen. Sie hätte ihnen den Unterschied zwischen den Wechselfällen einer Paarbeziehung und der erforderlichen Enthaltsamkeit der Jugend beibringen sollen. Wenn man das Sexualleben zu früh aufnimmt, erschöpft die Sexualität den Körper. Sie lenkt vom Lernen ab und schenkt den Jugendlichen eine Ausflucht, um eine Abneigung gegenüber ihrer schweren Zukunft aus Arbeit und Entbehrungen zu entwickeln, die sicherlich kein Zuckerschlecken ist wie ein Urlaub im Club Méditerranée , die aber auch ihre eigene Schönheit und ihre ehrenvollen Seiten hat. Im Übrigen wird die Gesellschaft ihnen nie mehr bieten als das. Wozu also aufbegehren? Haben wir beide, Herr Fritzl, denn nicht auch unsere Kinderträume einen nach dem anderen begraben, um unser Überleben zu sichern?“
    Er machte einen kleinen Hüpfer, um seine Conclusio höher zu hängen.
    „Erwachsen zu sein heißt, es zu etwas zu bringen und die Unendlichkeit den Sternen zu überlassen.“
    Ein Frosch im Hals zwang ihn zu einer Unterbrechung. Er füllte die Tasse, aus der er seinen Nescafé getrunken hatte, mit Wasser, um unauffällig zu gurgeln.
    „Würde ich es wagen, würde ich Angelika vor ein Schwurgericht stellen. Sie ist nämlich genauso schuldig wie Sie. In der ersten Zeit mögen Sie der einzige Kapitän an Bord gewesen sein und sie die Sklavin, die man im Laderaum angekettet hat. Aber nachdem sie Bewegungsfreiheit hatte, wurde sie de facto Ihre Konkubine, und Sie beide waren ein gleichberechtigtes Paar. Sicherlich werden Sie einwenden, dass Angelika es sich nicht aussuchen konnte, wo sich ihr Heim befand, aber welche Angehörige des schwachen Geschlechts erfreut sich dieses Wahlrechts in diesem unserem Land, das so viele Weibchen und so wenige Frauen zählt?“
    Fritzl, dem das einging wie Milch und Honig, lächelte die Wand an wie ein dankbares Baby seine Amme.
    „Nach Petras Geburt hatte sie Mutterrechte. Diese hat sie in aller Freiheit ausgeübt wie eine Frau, deren gutmütiger Mann ihr die Zügel überlässt. Haben Sie sich, Herr Fritzl, jemals gegen irgendeine ihrer Entscheidungen bezüglich der Kindererziehung aufgelehnt? Haben Sie je eine einzige Strafe hinterfragt, die sie sich den Kindern aufzuerlegen bemüßigt gefühlt hätte? Haben Sie sie daran gehindert, mit den Kindern Gymnastik zu machen, um ihre Ankylose in den Griff zu bekommen? Haben Sie auch nur ein einziges Mal widersprochen, wenn sie ihnen die Aufgabe gestellt hat, ein Märchen, eine Multiplikationstabelle, einen Lehrsatz auswendig zu lernen? Nie, natürlich nicht, denn sie hat sich dieser Mühe ja niemals unterzogen! Die Wohnverhältnisse kann sie nicht ewig als Generalentschuldigung heranziehen. Unsere Vorfahren haben in Höhlen gelebt, trotzdem haben sie ihren Kindern Werte, Kultur und Techniken beigebracht, die wiederum deren Eltern ihnen vermittelt und die diese ihr Leben lang entwickelt hatten. Die frühen Hochkulturen konnten nur durch Beharrlichkeit und Fleiß aufblühen. Aber Angelika war besessen von ihrem Körper. Anstatt Sie um Schulbücher, Weltkarten oder Schiller-Gedichte zu bitten, verlangte sie Schmuck, Parfüm und Firlefanz, um Sie besser um den Finger zu wickeln und auszulaugen.“
    Fritzl war gerührt – hätte er Tränen gehabt, er hätte welche vergossen.
    „Und vergessen Sie nicht, dass sie eidbrüchig geworden ist. Kaum war sie in den Fängen der Polizei, hat sie den Schwur gebrochen, den sie Ihnen feierlich geleistet hatte: ohne einen Mucks in den Keller zurückzukehren. Dieser Judas hat Sie verraten gegen das Versprechen, straffrei auszugehen. Unser Land wird heute vom Leichtsinn der Polizisten zusammengehalten, die Angelika die Absolution erteilt haben, ohne sie jemals mit Ihnen zu konfrontieren und ohne sie von einem dieser Psychiater untersuchen zu lassen, die Sie seit Ihrer Verhaftung ohne jede Scham analysieren. Sie hätten ihr schon ihre Lügen, ihre Fahrlässigkeit, ja vielleicht auch ihre Schandtaten aus der Nase gezogen, die sie an Ihrer Stelle ins Gefängnis gebracht hätten. Eingehüllt in den Nimbus ihrer Mutterrolle bewundert Österreich sie und überschüttet sie mit Gold. Implantate? Aber natürlich wird sie ihre Implantate bekommen. Sie kann sogar verlangen, dass man ihr jeden Knochen durch eine Fiberglasprothese ersetzt, damit sie nicht so schwer ist, wenn sie sich gegen Mittag endlich aus dem Bett quält, um sich aufs Sofa

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