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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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vermuten eine Erbkrankheit.“
    ,,In unserer Familie hat niemand so eine Krankheit.“
    Die Polizisten gingen wieder. Fritzl setzte sich in seinen Sessel, Anneliese stand hinter ihm wie die Skulptur eines dicken Handwerkers, die Kunden anziehen soll wie ein rosa Ferkel vor einer Landmetzgerei.
    ,,Ich hätte sie besser alle verrecken lassen sollen! Diese Geschichte hat lange genug gedauert.“
    Anneliese sagte nichts. Sie hatte nichts gehört. Ihre Ohren waren dazu abgerichtet, nur Befehle und Vorhaltungen durchzulassen.
    Die Pressestelle der Polizei gab eine Suchmeldung heraus, während die Beamten Fritzl befragten. In Anbetracht von Petras Zustand hielten sie es für taktvoller, kein Foto beizufügen. Personen, die am Vorabend gesehen hatten, wie jemand eine Sterbenskranke vor dem Haus in der Ybbsstraße abgelegt hatte, sollten sich unverzüglich unter einer bestimmten Telefonnummer melden.
    Am Spätnachmittag belagerten schon die Journalisten das Spital.
    Einige überraschten die Angehörigen des kranken Mädchens, das vom Himmel gefallen war, lieber direkt in ihrem Heim. Anneliese führte sie ins Wohnzimmer. Mit ausladender Geste bot Fritzl ihnen Platz auf dem alten Sofa an, wo sie sich unter dem Quietschen der müden Sprungfedern setzten.
    ,,Warum haben Sie nicht die Polizei geholt?“
    ,,Um wie viel Uhr haben Sie sie gefunden?“
    ,,Welchen Beruf haben Sie vor Ihrer Pensionierung ausgeübt?“
    Fritzl antwortete bereitwillig und schaudernd vor Freude, weil er meinte, berühmt zu werden. Eine Art Euphorie überkam ihn wie von einem Rauschmittel. Dennoch war er verärgert, weil man ihn nicht – wie er sich vorkam – für fünfzehn Jahre jünger hielt und ihn gleich in die Schublade der Pensionisten steckte, die er immer für Schmarotzer gehalten hatte.
    ,,Ich war Ingenieur. Heute bin ich Privatier.“
    Manchmal wandte man sich an Anneliese, die in Habachtstellung hinter ihrem Mann stand.
    ,,Hat Ihre Tochter Ihnen denn nie geschrieben, um Ihnen die Geburt des Kindes mitzuteilen?“
    Fritzl antwortete für sie. Sie hätte den Mund sowieso nicht aufgemacht.
    ,,Vor ein paar Monaten hat sie uns geschrieben und angekündigt, dass sie bald mit ihren drei Kindern zu uns kommen will.“
    ,,Drei?“
    ,,Ja.“
    Er warf sich in die Brust, stolz, seine Manneskraft als Deckhengst öffentlich machen zu können.
    Vor dem Klinikum wehrte ein Gespann Pfleger die erste Tsunami-Welle der Medien ab, die Amstetten fast ein Jahr lang überfluten sollte. Nach langen Verhandlungen und Anrufen bei der Klinikleitung ließ man den Intendanten des österreichischen Fernsehens ein. Er verlangte, mit dem Diensthabenden zu sprechen, der Petra aufgenommen hatte.
    Zwanzig Minuten später passierte auch sein Kamerateam die Schranke.

Um neunzehn Uhr aßen die Kinder im Keller zu Abend. Außer in Zeiten des Hungers, wenn Fritzl die Versorgung aussetzte, gab es reichlich Essen. Fettes Essen, das sie zusammen mit ihrem extremen Bewegungsmangel dick machte. Bei ihrem Übergewicht war ihnen eine stehende Haltung unbequem. Petra und Martin hatten sich nie vollständig aufgerichtet. Auch später gingen sie gebeugt durch die Straßen, durchquerten Geschäfte wie Bucklige und krabbelten, sobald sie zu Hause waren.
    Angelika sah in ihrem Schlafzimmer fern. Sie sah den ersten Aufruf des Chefarztes in den Nachrichten.
    ,,Wir müssen unbedingt die Mutter untersuchen, wenn wir dieses junge Mädchen retten wollen.“
    Fritzl hatte das Antennenkabel für den Keller an die Buchse oben im Wohnzimmer angeschlossen. Wenn Anneliese mit dem Staubsauger dagegenstieß, wackelte das Bild, der Ton rauschte, und wenn der Stoß zu heftig war, wurde der Bildschirm schwarz. Angelika konnte Fritzl bei jedem Besuch noch so oft auf die Störung hinweisen – es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, ständig zu vergessen, den Antennenkontakt mit einem einzigen Handgriff wiederherzustellen.
    Angelika hatte eine sehr schlechte Erinnerung an die seltenen Gelegenheiten, als sie an die Rohre geklopft hatte, um Fritzls Aufmerksamkeit zu erregen. Also zog sie den Stecker des Fernsehers heraus und kratzte mit der Schere daran herum. Sie stellte sich vor, dass Parasiten aufsteigen und oben aus dem Familienfernseher herauskriechen würden. Vielleicht würde Fritzl diesen diskreten Hinweis verstehen. Alle würden es für einen Defekt des Senders halten. Fritzl müsste sie nur davon überzeugen, dass der Lärm durch Höhlen und Katakomben von einem Abwasserrohr käme, das in einem

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