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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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einem fernen Land, das sich einen schlechten Scherz daraus machte, Albträume auszustrahlen, die eine ganze Armee bösartiger und verrückter Drehbuchautoren verfasste. Angelika war nicht so unterwürfig wie Anneliese.
    Angelika wischte sich die Hände an einem Tuch ab, sie kam genau in dem Moment ins Zimmer, als der Appell gesendet wurde.
    ,,Da siehst du es.“
    Fritzl rülpste seine Mortadella hinaus. Er schob Roman weg, sah Angelika ins Gesicht. So unterjochte er sie. Er ließ sich seine Angst nicht anmerken, dass sich das Tier, das schon so lange gebändigt war, auf seinen alten, müden Dresseur stürzen könnte. Er spürte, dass Petras Herausnahme aus dem Keller einen Prozess ausgelöst hatte, den er allerhöchstens verlangsamen könnte, wenn er nicht die Kraft hätte, seinen Traum zu beschließen und die beiden Stahlbetontüren endgültig zuzusperren, so wie man ein Grab versiegelt.
    Die Schreie, die Rohre, die ein letztes Mal klingeln würden wie eine Totenglocke, würden keine große Rolle spielen.
    An der Türschwelle wäre er dann frei, die Fragen der Journalisten zu beantworten. Dennoch müsste er jedes Schweigen vermeiden, damit sie in den Hintergrundgeräuschen der Stadt nicht den Soundtrack des Kellers im Todeskampf ausmachen könnten, wenn sie ihre Aufzeichnungen abhörten.
    Diese Leute hatten ein feines Gehör. Am Nachmittag hatte sich eine Auslandskorrespondentin von La Repubblica während ihres Gesprächs von einem fernen Rauschen gestört gefühlt. Sie hatte mehrmals mitten im Satz innegehalten, um den Raum im Halbkreis mit den Ohren zu sondieren.
    ,,Ich bin Musikerin. Das Geräusch von Wellen höre ich auf zehn Kilometer Entfernung.“
    ,,Das ist der Fernseher der Nachbarn.“
    ,,Ah, diese Nachbarn!“
    Ihre eigenen Nachbarn hatte sie angezeigt, ein älteres Ehepaar aus Rom, weil es bis drei Uhr früh Belcanto hörte.
    ,,Ich bin Florentinerin. Die Römer meinen, sie könnten sich alles erlauben!“
    Sie hatte das Interview wiederholt.
    Angelika zuckte nicht. Sie hielt Fritzls Blick stand, ihre Lider wie zwei Klappen. Er ging durchs Zimmer. Als er an ihr vorbeikam, wich sie vor ihm zurück wie vor einer Gefahr. Ein Reflex, der aus den Tiefen ihrer Geschichte aufgetaucht war, aus der Zeit, als sie in ihrem Elternhaus, das so gastlich war wie eine Folterkammer, zum ersten Mal seine Faust zu spüren bekommen hatte. Damals hatte sie im Alter von fünf Jahren ihrem Bruder die Zunge herausgestreckt, und als Fritzl sie in dem alten Dielenspiegel mit den blinden Flecken gesehen hatte, hatte er gemeint, dies gälte ihm.
    Martins Schuhe standen zu beiden Seiten des Standwaschbeckens. Er hatte sich in der leeren Badewanne vollständig angekleidet zusammengekauert. Sein Kopf steckte zwischen seinen Schenkeln, vielleicht starrte er in der Dunkelheit auf die Emaillebeschichtung, während er vor sich hin döste wie eine Katze, die sich an einem unpassenden Ort zusammengerollt hatte, oder er lauschte sich selbst die spärliche unterirdische Luft atmen. Fritzl interessierte sich nicht für ihn. Als das Kind hörte, wie die Schleuse sich wieder schloss und die Stange herabfiel, fuhr es zusammen.
    Im Heizungskeller stellte Fritzl den Strom und die Wasserzufuhr ab. Sollten sie doch in ihrem Grab sterben! Ein ganzes Leben voller Arbeit und treusorgender Vaterschaft sollte nicht in einer Zelle enden, die noch kleiner war als der Keller und nicht annähernd über den Komfort verfügte, den er im Lauf der Zeit dort installiert hatte.
    Bevor er schlafen ging, trank er ein paar Bier. Im Bad polierte er seine Zähne mit Holzkohlepulver – das machte er seit seiner Jugend, um sein Lächeln aufzumöbeln. Dann ging er ins Schlafzimmer, wo Anneliese schon schlief. Sie schnarchte, er gab ihr einen Tritt. Sie drehte sich um und war still. Er schaltete die Deckenlampe ein, um den weiten, schwarzen Satinpyjama anzuziehen, den er vor einem Monat in Linz gekauft hatte und in dem er aussah wie ein alter, schnauzbärtiger Pierrot, der in die Tinte gefallen war.
    Auf drei Polstern im Rücken gestützt, schlief er im Bett sitzend ein. Wie alle Tyrannen, Folterer, Feiglinge und Fesche hatte er panische Angst vor dem Tod, vor Schmerzen, vor Gebrechlichkeit. Dem Bett näherte er sich immer nur widerstrebend. Er atmete tief durch, bevor er sich hinlegte und in einen leichten Schlaf glitt, durch den Bruchstücke der Wirklichkeit wirbelten. Wer nicht träumt, hat nur seinen Körper. Er sprach oft im Schlaf. Hätte man seine Worte in diesen

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