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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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vierundzwanzig Jahren aufgezeichnet, hätte man ganz sicher die Geschichte des Kellers rekonstruieren können. Aber Anneliese hatte sich nie für befugt gehalten, zuzuhören.
    Man nahm nur die Stille der Nacht wahr. In der Ferne ein Auto, das abbremste, der Fahrer trat noch ein letztes Mal aufs Pedal, bevor er das Gas ganz wegnahm. Ein Motorrad fuhr durch die Stadt, ein Wortwechsel unter angetrunkenen jungen Leuten, der plötzlich abbrach, nachdem man gehört hatte, wie eine Haustür zufiel.
    Fritzl spitzte die Ohren, hörte die Musik aus der einzigen Nachtbar, die am Hauptplatz noch geöffnet hatte. Die Rohre schwiegen, nicht einmal ein Seufzer stieg von unten auf. Er konnte ruhig schlafen, die Bewohner des Kellers schienen sich mit dem Sterben abgefunden zu haben. Wie Kaspar Hauser würde auch Petra immer ein Mysterium bleiben. Nach vier, fünf Monaten immer nachlässiger werdender Ermittlungen würde die Polizei sich dazu entschließen, den Fall im wieder eingetretenen Schweigen der Medien zu den Akten zu legen.
    Im Winter wachte Fritzl immer um halb sieben Uhr auf. Mitte Mai aber schlug er schon um fünf die Augen auf. Ohne Wecker. Als hätte ihm seine Mutter als Kind einmal eine Standuhr zum Abendessen gefüttert.
    Anneliese kochte ihm seinen Kaffee. Sie würde sich noch einmal auf die Tagesdecke setzen und eine Patience legen. Unermüdlich begann sie wieder und wieder, bis sie gewann. Wenn das Schicksal sich gegen sie verschworen und sie keine Zeit hatte, ein paar Partien hintereinander zu legen, zitterten ihre Fingerspitzen aus Angst vor einem Unglück.
    An diesem Morgen las Fritzl um zehn Uhr in seinem Büro im Erdgeschoss die Zeitung. Der Raum war so ordentlich, als hätte man ihn aus dem Haus eines berühmten, verstorbenen Mannes transferiert und in ein Museum verwandelt. Das Fenster war so sauber, dass man meinen konnte, im Rahmen säßen gar keine Scheiben. Die Bücher auf den Regalen waren nach Größe, Titel aus derselben Reihe alphabetisch geordnet. Ein altes Taschenmesser mit polierter Klinge aus Eisen, mit neun Jahren hatte er es beim Murmelspiel gewonnen. Eine vergoldete Brosche mit einer falschen Kamee, seine Mutter hatte sie an ihrem Morgenrock getragen, den sie bis zu ihrem letzten Atemzug immer wieder geflickt hatte. Ein Bierkrug aus Porzellan mit Zinndeckel.
    Auf dem Tisch, von dem ich bei meinem Besuch lediglich die Abdrücke der Beine sah, lagen in einem Viereck Stifte parallel nebeneinander, eine Lupe, die die Maserung der Kirschholzplatte vergrößerte, eine halbmondförmige Lesebrille im Etui, die Fritzl nur in größter Not benutzte, wenn die Buchstaben zu klein waren, um sie mit bloßen Augen zu entziffern – sie waren von einer leichten Alterssichtigkeit befallen, derer er sich schämte.
    Sein Foto auf Seite drei der Kronen Zeitung . Es entsprach dem Bild, das er von sich selbst hatte. Dieses leichte Lächeln voller Genugtuung, das er während des ganzen Prozesses aufsetzen und das seine Gewissensbisse in den Augen dieser armen Magistrate eine infame Lüge strafen würde – Anfänger, die seit Beginn der Verhandlung vollkommen am Schwimmen waren und oft untergingen, wenn der Anwalt Fälle von erfolgter Rechtsprechung aus seinem Köcher zog, von denen sie noch nie etwas gehört hatten. Fritzl fand, er hätte schöne Augen und einen schönen Mund unter seinem Schnauzbart.
    Der Schrei einer Frau, eingerahmt von zwei leiseren Schreien, die man hörte, wenn Angelika kurz Luft holte. Dann ein Beckenwirbel – Töpfe, Pfannen, Topfdeckel wurden mit aller Gewalt aneinandergeschlagen.
    Fritzl erinnerte sich, dass er Angelika einmal gesagt hatte, der Briefträger käme jeden Morgen um dieselbe Zeit.
    ,,Fünf nach zehn, nie vorher und nie mehr als vier Minuten verspätet. Wie die Eisenbahn.“
    Er ging in den Hauseingang. Als er den Korridor durchquerte, hörte er die Post in den Briefkasten fallen. Anneliese quetschte sich mit ihrem Einkaufstrolley dicht an die Wand. Er ging die Treppe hinunter, spreizte die Beine, um das Gleichgewicht zu halten, damit er größere Schritte machen konnte.
    Im Heizungskeller gab er ihnen wieder Licht und Strom. Stille kehrte ein. Sein Herz zog sich zusammen, er schien auch wieder diesen Schmerz zu verspüren, den kein Kardiologe trotz Fritzls wiederholter Nachfragen als Angina Pectoris diagnostizieren wollte.
    Er setzte sich auf den Sessel in seinem Zweitbüro, in dem er nie arbeitete, sondern über seinen Plänen schwitzte, wenn er im Keller verschwand. Auf der

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