Claustria (German Edition)
Paket vom Briefträger. Sie hielt es fest im Arm und legte es ohne einen Kuss auf das alte Sofa.
Sie ging auf den Dachboden und holte die Familienwiege aus den Dreißigerjahren, in der auch sie einmal geplärrt hatte, nach ihrem älteren Bruder, der mit anderthalb Jahren an einer Hirnhautentzündung gestorben war, vor ihrer Schwester und all den Kindern, die aus ihrem Bauch gekommen waren. Als sie Zwillinge geboren hatte, hatte ihr eine Tante eine zweite Wiege geliehen. Zurückgegeben hatte sie die Wiege nach Chlorbleiche stinkend, mit der sie diese übergossen hatte, um ihren Sauberkeitsfimmel und die Reinlichkeit unter Beweis zu stellen – in dieser Gegend, wo nur wenig Seife verkauft wird und Deodorants als Luxusgüter gelten.
Sie kam wieder herunter mit der Wiege voller Babyfläschchen, Flaschenbürsten, Schnuller mit den Spuren zahlloser zahnloser Münder und Milchzähne, mit rostfleckigen Strampelanzügen, die noch nicht so durchgehend geflickt waren, dass sie nicht an etlichen Stellen Löcher gehabt hätten. Eine Komplettausstattung, traurig wie die Ausrüstung, die ein Gefangener bei Haftantritt erhält.
Sie zog das Kind aus, warf die Höschenwindel weg und wickelte es stattdessen mit Stoffwindeln, die sie an der Seite mit einer Sicherheitsnadel befestigte. In einem Plastikkübel sammelte sie die schmutzigen Windeln, sie wusch sie einmal pro Woche und hängte sie stolz im Garten auf wie Flaggen eines neu eroberten Territoriums.
Säuglinge waren ihr am liebsten, gehorsame Untertanen, die nicht Reißaus nehmen konnten und nicht einmal im Ansatz über Wörter verfügten, um ihr zu widersprechen. Sie blieben dort, wo Anneliese sie hinlegte, wie Igel, die man auf den Rücken dreht und die auf ihren Stacheln liegend quieken, ohne je wieder auf die Beine zu kommen.
Aber die Kleinen, die Fritzl ihr aus dem Keller brachte, waren keine Babys mehr. Hyperaktive Kinder, die nicht stillsitzen konnten und schon groß genug waren, um Schläge zu bekommen. Anneliese pferchte sie in den Kinderwagen und schob sie mit Besitzerlächeln durch die Straßen von Amstetten. In den Geschäften beklagte sie sich über diese Nutte, die sich in einer Sekte von irgendwelchen Schwärmern schwängern ließ.
,,Eine Sekte. Aber nennen Sie es, wie Sie wollen. Wie Sie sehen, ist das jedenfalls kein Kloster.“
Sie deutete mit dem Finger auf den Inhalt des Kinderwagens.
,,Zum Glück konnte der Doktor uns bestätigen, dass das Kind kein Aids hat.“
,,Mit so einer Tochter sind Sie wirklich geschlagen!“
,,Und dann gestattet man uns nicht mal eine Adoption! Als würde sie eines Tages zurückkommen.“
Die Behörden hatten den Fritzls 1992 bewilligt, Sophie zu adoptieren, zwei Jahre später aber Sabines Adoption verweigert. Als dann Julius wie seine Schwestern vor der Haustür lag, verkündete Fritzl, dass er es nicht noch einmal riskieren wolle, einen Antrag zu stellen.
,,Die Beamten sind so misstrauisch wie die Nazis.“
Trotz allem gab es keine Ermittlungen, die österreichische Polizei steckt ihre Nase nicht gern in Familiengeheimnisse. Misshandlung, Inzest, Kindesaussetzung – all das stinkt zum Himmel, und wenn man in dieser schmutzigen Wäsche rührt, verschmutzt man die Luft noch mehr als Müllverbrennungsanlagen.
Eine Lokalzeitung wagte es, einen Artikel darüber zu bringen. Der Redakteur wunderte sich, dass in Amstetten vor der Tür der Familie Fritzl Kinder wie Pilze aus dem Boden schossen. Er fragte, wieso man nicht nach der Mutter suchte, denn nach dem Blutbad in einem Nachbarland im Oktober 1994, bei dem achtundvierzig Anhänger der Sonnentempler gestorben waren, hatte Österreich ähnlichen Sekten den Kampf angesagt und zögerte nicht, deren Großmeister zu inhaftieren.
Das Jugendamt zuckte mit den Schultern, als das Fernsehen zu einem Interview kam, und das Rathaus bespritzte mit seinem Lächeln die Linse, die der Kameramann zum Schutz vor dem prasselnden Regen ohnehin schon mit einem aufgeschnittenen Plastiksack umhüllen musste. Das Material wurde geschnitten, aber nie gesendet, weil es einfach zu grotesk war mit diesen Figuren, die daherkamen wie Buster Keaton und Harold Lloyd in einem.
Nach zwei Liebesmonaten machte Angelika mit Hans Schluss – er tröstete sich, indem er homosexuell wurde. Sie war siebzehn. Am Ende der Ferien im September ging sie von der Schule ab. Fritzl hatte beschlossen, dass sie mit ihrem fehlenden Fleiß sowieso nie einen Abschluss schaffen würde.
,,Du bist faul, ungebildet und dumm
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