Claustria (German Edition)
schüttelte sie. Da Angelika nicht antwortete, schüttelte sie diese noch mehr und drückte sie gegen das Gitter.
,,Willst du wohl reden?“
Die Lehrerin zog sie am Ohr und hörte auch nicht auf, als Angelika zu weinen anfing. An Gewalt war Angelika gewöhnt. Aber verglichen mit den Tritten ihres Vaters und den Watschen ihrer Mutter war das hier liebevoll.
,,Willst du es mir sagen?“
Die Frau schrie.
,,Wer?“
,,Papa.“
Die Lehrerin ließ Angelikas Ohr los und marschierte im Stechschritt davon. Sie meldete es dem Direktor. Dem beleibten Mann war das Ganze unangenehm und er hatte Angst, etwas loszutreten, was ihm schaden und ihn schließlich zu Fall bringen könnte.
,,Wissen Sie, Kinder lügen manchmal.“
,,Und wenn sie nicht lügt?“
,,Ihr Vater ist ein wenig impulsiv.“
Sie ließ aber nicht locker, der Direktor machte sich eine Notiz auf einem Schmierzettel.
,,Ich habe es notiert und werde es dem Jugendamt melden.“
Die Lehrerin verließ das Büro. Der Direktor wählte Fritzls Telefonnummer. Anneliese hob ab. Ein Hinweis auf einen Ordnungsverstoß.
,,Diese Lügen gefährden den Ruf unserer Schule.“
Die Drohung eines Schulverweises. Anneliese fürchtete einen Wutanfall ihres Mannes, der ihr genauso zusetzen könnte wie ihrer Tochter, und sagte nichts zu ihm. An jenem Abend ging Angelika vor Fritzls Heimkehr schlafen.
,,Sie hat Bauchschmerzen – sicherlich ihre Periode.“
Fritzl zog ein angewidertes Gesicht. In jener Nacht ging er nicht zu Angelika.
Anneliese verdrosch ihre Tochter, verschonte dabei aber Gesicht und Arme. Drei Tage später begannen die Osterferien. Danach kam das Schulamt einem Antrag der Lehrerin auf Versetzung nach Wien unverzüglich nach.
Der Alltag ist ein Förderband, das seinen Lauf ins offene Grab nimmt. Oben sieht Angelika den Keller nicht, in den sie fallen wird wie der Kopf eines Hingerichteten in den Korb voller Sägemehl. Die Strafkolonien auf den Inseln vor Cayenne wurden zu recht die ,,trockene Guillotine“ genannt. Sonnige Inseln. Und selbst die ,,Fillettes“ genannten Eisenkäfige, in die Ludwig XI. seine Gefangenen sperrte, ließen durch die Gitteröffnungen Luft ein, die durch die Schießscharten kam.
Fritzl ließ eine Familie in einem Loch sprießen, einem lichtundurchlässigen Treibhaus mit sieben unterirdischen Wurzelstöcken. Und die Erde dreht sich weiter im All.
Fünfzehn Jahre, sechzehn Jahre, Countdown mit Zahlen, die auf dem Kopf stehen. Der Inzest hindert Angelika nicht daran, die Liebe kennenzulernen. Vergewaltigung war keine Liebe, damals war ihr Vater nicht ihr Geliebter. Immer wenn er sie nahm, hatte sie das Gefühl, lediglich noch brutaler geschlagen zu werden. Schläge, die sie mit jedem Lendenstoß durchdrangen. Liebkosungen wie Ohrfeigen, das Gefühl zu ersticken, wie wenn man einen Knüppel in den Mund gesteckt bekommt, die Marter der Pfählung zu erleiden, wie es in ihrem Geschichtsbuch durch die Blume geschildert wurde. Angelika gab Fritzl ihren Körper hin, um nicht zu leiden.
Am Ende war es schmerzlos. Sie spürte nichts mehr, keine Tränen flossen mehr. Sie war betäubt, hatte sich selbst geopfert, er verschlang sie wie ein Hungriger seine Ration. Sie trat aus sich heraus, kehrte erst wieder zurück, wenn das Sperma geflossen war. Gleich darauf verließ er ihren Körper, so wie man ein Zimmer verlässt, so wie man vom Tisch aufsteht, wenn man zu viel gegessen hat, so wie man aus seiner Unterhose steigt. Dann schluchzte sie lautlos in ihre zusammengepressten Hände hinein wie nach Annelieses Prügel.
Angelika verfügte nicht über mehr sexuelle Erfahrung als eine geprügelte Frau. Ein missbrauchtes Mädchen, das noch nie geliebt worden, noch nie zum Höhepunkt gekommen, ein Mädchen, das bezüglich der Sinnesfreuden jungfräulich war. Ein Mädchen, das schon beim ersten Mal misstrauisch geworden war, eingeschüchtert – Lust und Angst miteinander verwoben, klopfendes Herz.
Sie verknallt sich in einen großen Jungen mit schwarzem Haar, blauen Augen, er hält sich für einen Dichter, weil er Rimbaud ähnlich sieht. Er schreibt Gedichte ohne Reime, mit fehlerhafter Grammatik, fehlerhafter Orthografie – so etwas wie formlose Gefäße voller Löcher, durch die nichts herausdringt, denn die Leere fließt nicht.
Er heißt Hans Fennart, ist der Sohn eines Amstettener Spenglers.
,,Ich liebe ihn, wir gehen zusammen weg.“
,,Wohin?“
,,Immer weiter fort. Wir lassen uns nicht fangen, indem wir an einem Ort bleiben.“
Ihre
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