Claustria (German Edition)
würden sie das Gleichgewicht wiederfinden. Und sie standen ja auch schon. Sie hatten den Tank gefüllt. Der Tankwart sah sie abfahren, ohne bezahlt zu haben. Er hätte ihnen hinterherrennen sollen, aber sie waren bereits ein- und ausfädelnd in einer Lkw-Schlange verschwunden.
Kleine Städte, große Marktflecken, stolzgeschwellt mit ihren alten Tanzböden, die sich für Opernhäuser hielten, und ihren klobigen, stuckverzierten Kirchen, die auf rotgoldenen Blechschildern Basiliken genannt wurden.
Ihr Rausch war schon lange vergessen. Das Bier war gut in diesem Wirtshaus, das mitten auf einem Platz stand, als befände es sich seit den Merowingern schon dort und Häuser und Straßen wären darum herum gewachsen.
Sie sahen sich wieder fröhlich werden. Das Bier floss in ihre Bäuche wie Glück. Die wenigen Kindheitsfreuden in Angelikas Erinnerung kamen ihr fade und ärmlich vor, ein leises Lüftchen, verglichen mit dem Sturm aus Alkohol und Liebe.
Diese Szene hatten sie in einem italienischen Film gesehen: sich versteckt hinter der hellbraunen Plane einer Baustelle auf offener Straße lieben. Motoren hören, die Gespräche der Passanten, quietschende Bremsen, schreiende Kinder, die rannten, so schnell sie konnten, als wollten sie die Unendlichkeit einholen.
Keine Plane, keine Baustelle, als hätte man die Stadt erst letzte Woche angeliefert. Die grauen Fassaden hatte man in der Fabrik Patina ansetzen lassen wie Bronze, die Dekorateure hatten letzte Nacht mit Schrot auf die Gehwege geschossen, damit sie Löcher bekamen und nicht so banal neu aussahen.
Ein scheußliches Sofa mit verschlissenem brombeerlila Bezug steht verlassen in einer Gasse, die für Müllwagen zu eng war. Offene Fenster, niemand auf den Balkonen, eine Katze schläft in ihrem Körbchen am schmiedeeisernen Geländer in der Sonne, im vierten Stockwerk flucht ein Papagei im Käfig.
,,Meinst du wirklich?“
Thomas ist ein schüchterner Bursche, er wird schon rot, wenn man laut mit ihm spricht.
,,Wenn es verboten ist, ist es besser.“
Sie stößt ihn, er taumelt aufs Sofa. Sie fällt auf ihn, ein junges Mädchen wie ein Päckchen, in Jeans gewickelt. Die Kleider fallen zu Boden, zerknittert wie Papier, das den Kindern egal ist, sobald sie ihr Geschenk in Händen halten.
Liebe – egal wie. Sie kommen und merken es gar nicht, so sehr lachen sie. Sie wissen nicht, ob sie von Neuem beginnen oder weitermachen. Die Lust, einen Mann zu hören, der sie mit derben Sprüchen anfeuert, das Surren eines Fahrrads, das eine glucksende Frau schiebt, und der Papagei, der ihnen droht, die Polizei zu rufen. Am Ende stellen sie fest, dass der Papagei gar keine so tiefe Stimme hat und seinerseits weiterschimpft, als sei nichts gewesen. Und dann überall Schritte, die sich nähern, der Lärm eines Menschenauflaufs um sie herum. Vergnügte Gaffer, sie wollen ein bisschen spannen. Angezogen vom verlockenden Duft kamen sie von der Nebenstraße oder wurden durch die Buschtrommeln benachrichtigt, denn damals gab es noch keine Handys. Manche aber sind fuchsteufelswild, sie brüllen aus vollem Hals, und die beiden jungen Leute bekommen die ersten Spuckekleckse ab.
Abends im Bett ihres Wiener Vorstadthotels fangen sie wieder an zu lachen, als sie sich die Rauferei in Erinnerung rufen, die zertrampelten Kleider, die sie gerade noch zusammenraffen konnten, die Flucht unter Beschimpfungen und anzüglichen Bemerkungen. Das chaotische Starten des Motorrads, es schleift eine Xanthippe hinter sich her, die sich an Angelikas Schenkel geklammert hat.
Das Glück der wiedergewonnenen Freiheit, die überfahrenen roten Ampeln, die Fußgänger, die zur Seite springen, um nicht zu sterben. Die Verfolgungsjagd mit einem Trupp Polizisten, der ihnen auf den Fersen ist. Nach jedem Gehsteig, über den sie rasen wie über eine Schanze, das Gefühl, zu landen und gleich wieder durchzustarten wie ein Flugzeug bei einem Fliegenden Zirkus.
Wien kommt in Sicht, sie verschmelzen mit dem Verkehr auf der Mariahilferstraße. Die Polizei war nicht hinter ihnen her, das haben sie nur erfunden für den Spaß, einen Krimi erlebt zu haben.
Am nächsten Tag hielt die Polizei sie wegen Geschwindigkeitsübertretung auf dem Schottenring an. Aus Angst, Polizisten auf Motorrädern könnten sie einholen, hielten sie auf dem Standstreifen an.
,,Ausweiskontrolle.“
Fritzl hatte Angelika als vermisst gemeldet. Die Polizisten überprüften ihre Personalien und brachten sie ihm zurück.
Vier Tage Freiheit,
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