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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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Glasperlenvorhang angebracht worden war. Ein durchsichtiger Vorhang, schillernd wie ein Meer aus Öl mit Myriaden winziger Bilder vor Augen.
    ,,So sparen wir Platz. Ich konnte diese Tür nicht mehr sehen, wenn sie mitten in den Gang hinein weit offen stand.“
    Keiner war überzeugt, alle schwiegen.
    Angelika horchte, bevor sie das Wasser in der Dusche aufdrehte. Nie ein verdächtiges Geräusch, immer nur die Stimmen und Schritte des Hauses. Manchmal zog Fritzl die Schuhe aus, um sich ihr zu nähern. Er schlich sich an wie eine Katze, stellte sich hinter den Vorhang und war durch die Prismen der Perlen im angelaufenen Spiegel kaum zu erkennen.
    Sie hatte ihn im Verdacht, ohne dass sie ihn jemals kommen gehört hatte. Jemand war irgendwo auf der anderen Seite der durchsichtigen Wand der Duschkabine, bespritzt mit Schaum und Tropfen. Sie hatte ihn auch dann im Verdacht, wenn er nicht zu Hause war.
    Mitunter kündigte er seine Anwesenheit an, indem er über den Vorhang strich wie über eine Harfe. Eine klägliche Melodie aneinanderprallender Kugeln. Angelika drehte das Wasser ab, um sich zu vergewissern, dass sie dieses Geräusch auch wirklich gehört hatte. Manchmal war keiner da, und sie fragte sich, ob er den Vorhang berührt hatte, bevor er verschwunden war und sich auf dem dunklen Gang versteckt hatte, oder ob sie halluziniert und die Melodie nur als eine Erinnerung im Kopf gehört hatte.
    Doch meist sah sie seinen Kopf kommen und gehen, oder sein entblößtes, steifes Glied sprang in den Raum und wieder zurück hinter die Kulissen wie beim Kasperltheater. Nicht immer zeigte er sich, manchmal zog er sich auch unbefriedigt kichernd zurück.
    Er hatte es sich bereits angewöhnt, für einen Vormittag, einen Tag, eine ganze Nacht von der Erdoberfläche zu verschwinden. Mit einem Gefühl von Freiheit und Allmacht ging er in den Bunker hinunter wie ein Kind, das in sein Baumhaus klettert. Er tauchte unter, machte irgendetwas Kleingeschnittenes auf dem Kocher warm, während er die Tür einen Spalt offen ließ, er schlürfte sein Bier, schlief auf einer Bank und zerquetschte mit dem Hintern die Kuhglocke.
    Fernab des hereinbrechenden Tages und der aufgehenden Sonne schlief er wie ein Baby. Zu lange. Manchmal vierzehn Stunden – er, der immer wenig geschlafen hatte und im Morgengrauen aufgestanden war. Hätte er dem Ganzen nicht Einhalt geboten und den Wecker an seiner digitalen Armbanduhr gestellt, hätte er vielleicht ganze Tage übersprungen, wie es seine Kellerfamilie Jahre später mitunter tun würde.
    Er machte gern in diesem winzigen Raum Urlaub, er setzte sich auf einen Hocker, dann auf einen anderen, las Artikel in Fachzeitschriften, stieß mit erhobenem Kopf einen triumphalen Rülpser aus, um ihn zwischen den Wänden widerhallen zu hören, er atmete sogar Butangas ein, das ihn euphorisch machte bis hin zu diesem Zustand von Idiotie, den Drogensüchtige anstreben. Er wohnte nun in diesem Bau, in dem er bald seine Art erhalten würde.
    Seine Beute legte jedes Jahr zu wie Geflügel, das man in Batterien züchtete, zweihundert Gramm pro Woche. Mit der Freude des Züchters sah Fritzl sie wachsen, ihre brandneuen Brüste, ihren runden Po. Manchmal strich er ihr im Vorbeigehen über den Hintern oder gab ihr so einen zärtlichen Klaps, mit dem der Bundespräsident beim Besuch der Landwirtschaftsmesse eine Kuh bedenkt. Fritzl liebte die Frau, die in Angelika heranwuchs, diese Annette, die er nach und nach wiedergefunden hatte.

Mit vierzehn schlief Angelika öfter im Unterricht ein und fuhr jäh, aber schweigend wieder auf, die Spuren eines erstickten Schreies im Gesicht. Ein steter Albtraum, der in ihr hervorquoll und dessen Schleusen sich jedes Mal öffneten, wenn sie die Augen schloss.
    Fritzl hatte schnell Abstand davon genommen, Anneliese zu befehlen, dass sie Angelika das Tragen von Röcken vorschreiben solle. Das Mädchen hatte rebelliert, außerdem hatte eine Hose den Vorteil, dass sie die Spuren der Tritte und die Blutergüsse verbarg, die die Schuhspitzen des Vaters an Angelikas Schienbeinen hinterließen.
    Eine Lehrerin, frisch von der Universität, sprach Angelika einmal auf dem Pausenhof an.
    ,,Was ist mit dir los, Angelika?“
    Angelika zog den Rollkragen ihres Pullovers hoch, um ihren Mund zu verstecken. Die Lehrerin nahm ihre Hand und sah es.
    ,,Was hast du denn da?“
    Die Oberlippe war aufgeplatzt.
    ,,Wer hat das getan?“
    Angelika zog die Lippen ein, um die Wunde zu verbergen.
    ,,Wer?“
    Die Lehrerin

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