Claustria (German Edition)
wie ein Dienstbolzen.“
Sie machte ein Praktikum in einem Wirtshaus, wo sie Thomas Ferten kennenlernte. Der junge Mann, vierundzwanzig Jahre, verführte sie mit seinen nordisch-blonden Dreadlocks und seinem watteweißen Teint.
,,So was wie ein Rasta-Wikinger.“
So beschrieb sie ihn ihrer Freundin Barbara.
,,Er wird mich wegbringen.“
,,Wohin?“
,,Ich kann nicht länger hierbleiben.“
,,Du solltest deinen Vater bei der Polizei anzeigen.“
,,Er bringt mich um, sobald ich aus der Wache komme.“
,,Vielleicht könntest du ihnen einen anonymen Hinweis geben.“
Seit einem Jahr kannte Barbara Josef Fritzls inzestuöses Verhalten in allen Details. Eines Abends hatte Angelika sich ihr in einem Kaffeehaus am Hauptplatz anvertraut, wo die älteren Gymnasiasten sich nach der Schule trafen.
,,Und dann zwingt er mich auch noch, in den Keller zu gehen.“
Sie wehrte sich, aber er warf sie die Treppe hinunter, also ging sie hinunter, ob sie wollte oder nicht. Er stieß sie von Tür zu Tür bis in den Bunker, wo er in aller Ruhe zum Inzest schritt.
Nach vollzogenem Missbrauch döste er auf der Bank. Er hörte Angelika durch den Keller rennen und Türen hinter sich zuschlagen, um den Augenblick hinauszuzögern, da er sie am Ende wieder einfangen würde. Langsam erwachte er aus seiner Lethargie und meist machte er sich nicht die Mühe, ihr zu folgen. Er erging sich lieber in der Erinnerung an die Lust, die er gerade erlebt hatte. Er zündete den Kocher an und braute sich einen Kaffee. Er trank ihn in kleinen Schlucken, während er an die gegenüberliegende Wand starrte, die er schön fand wie einen Traum.
Auf ihrer Flucht rannte Angelika zur Luft, zum Licht, zu den beruhigenden Geräuschen der Stadt. Aber wenn Fritzl sich in der Wohnung an ihr verging, blieb sie reglos liegen, zusammengekrümmt in einer Ecke des Betts, in der Dusche, auf der Klobrille, wo er sie kauernd erwischt hatte, nachdem er mit der Schulter die Tür aufgedrückt hatte. Bei seiner Tat ließ er die Türen immer offen. Mutter und Geschwister mieden den Gang oder zogen sich in ihre Zimmer zurück. Angelika regte sich nicht, sie hätte nicht gewusst, wohin sie sich in diesem tauben Haus hätte wenden sollen.
Thomas hatte ein Motorrad. Am 16. Juni 1984 die Flucht. Zwei Rucksäcke, kein Koffer. Zweitausend Schilling hatte Angelika in der Tasche ihrer Jeans, der Bursche fünftausend im Blouson. Abfahrt um zweiundzwanzig Uhr nach Schließung des Lokals. Aufbrechen, davonbrausen, frei wie ein Schiff auf hoher See, durch die stillen Straßen von Linz fahren, unter einer kränkelnden Leuchtreklame parken.
Ein kleines Hotel ohne Stern, ein alter, schielender Portier wie in einem Film noir mustert sie hinter einem Schnapsglas, das er sich ans Auge hält wie ein Monokel.
,,Vorauskasse.“
Thomas zückt die Scheine. Die beiden gehen die Treppe mit dem abgewetzten roten Läufer hinauf, der auf jeder Stufe von einer Messingstange gehalten wird. Sie betreten das Zimmer, klein wie eine Kammer. Alles ist alt, alles ist schön. Die Geschmacklosigkeit hat etwas – selbst die Mottenlöcher auf der granatroten Tagesdecke gefallen ihnen. Die kratzigen Leintücher, die älter sind als ihre Urgroßeltern. Sie verströmen den Geruch alter Zeiten.
Ein knarrendes Bett, ein rosa Waschbecken hinter einem Wachstuchvorhang mit Schottenkaro. Auf einem Tisch aus dunkelbraunem Holz mit eingeritzten Vornamen, Herzchen, Kraftausdrücken, Flüchen stellen sie ihre Rucksäcke ab. Das Zimmer sieht auf einen schmalen Hinterhof, in einer Ecke ein verrosteter Kühlschrank, mittendrin ein abgestellter Brunnen. Sie sind schon nackt, als sie die weiten Augen eines Mannes sehen, der gegenüber am offenen Fenster steht. Sie brechen in Gelächter aus, der Mann sinkt in sich zusammen, als hätte man ihm gerade sein Knochengerüst gestohlen. Er schmilzt zu einer Lache auf seinem Bettvorleger.
Liebesnacht. Die Erregung, zum ersten Mal im Leben in einem Hotel zu übernachten.
Die Sommernacht verfliegt so schnell wie eine Wolke. Das Morgengrauen fällt vom Himmel. Die Sonne scheint durch die Fensterläden. Das Linoleum ist schon warm und glänzend.
,,Herein.“
Erstaunt sehen sie eine Frau mit Schürze mit einer Kaffeekanne auf einem Tablett hereinkommen. Sie essen Kipferl, bestreichen Brot mit Honig. Sie lieben sich, die Brotkrumen kratzen Angelika am Rücken. Sie spülen sie am Waschbecken weg. Die Frau in Schürze an der Rezeption sieht sie vorbeigehen. Mit beiden Füßen springen sie
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