Claw Trilogy 01 - Fenrir
haben.«
»Nicht sehr weit«, widersprach Ofaeti. »Glaube mir, ich rieche es.«
Jehan glaubte ihm beinahe. Er war durch das Tor der Sünde in die irdische Welt eingetreten, die ihm frisch und wundervoll vorkam. Das Land strotzte vor Leben, der Frühling war endlich erwacht. Das nasse Gras verströmte einen saftigen, kalten Duft, der ihn stundenlang im Bann hielt. Der Geruch der Pferde, der in der Kleidung haften blieb, war anders als alle Ausdünstungen, die er je gerochen hatte. Neben dem starken, stechenden Schweißgeruch war dort noch etwas anderes, ein würziger Duft. Auch die Männer, die widerwärtigen stinkenden Wikinger, hatten auf einmal ein feines Aroma. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, er musste häufig ausspucken.
Er atmete tief durch und roch das Ozon des Meeres, das Pech am Strand und den verfaulenden Tang, aber außerdem noch eine Million anderer Dinge. Er konnte sie herausfiltern, identifizieren und sogar abschätzen, wo sich eine Schmiede oder Jauchegrube, eine Schafherde oder ein Markt befanden. Mit den Gerüchen kamen die Erinnerungen.
Er fuhr auf einem Boot nach Norden. Es war voller Krieger, die zu ihm aufschauten. Sie hatten etwas Seltsames an sich, und er versuchte herauszufinden, was es war. Kalte Augen hatten sie, waren bleich und kannten keine Furcht. Es waren Leichen. Er wusste, dies war keine Vision, sondern eine Erinnerung. Er war schon einmal so gereist wie jetzt, verzaubert und auf der Suche nach irgendetwas. Auf der Suche nach ihr. Aber wann? Hatten die Gnostiker recht? Gab es eine Stufenleiter der Seelen, die der Mensch Lebenszeit auf Lebenszeit emporklimmt, um den Himmel zu erreichen? Werden die Menschen wiedergeboren und erstreben immer wieder aufs Neue die Vollkommenheit, gewinnen an Heiligkeit und kehren zurück, um noch einmal von vorne zu beginnen? Er hatte sich in seinem Leben der Vollkommenheit nicht etwa angenähert, sondern war auf der Leiter sogar eine Sprosse hinabgestiegen. Natürlich kannte er die gnostische Ketzerei, die behauptete, im nächsten Leben würden die Missetaten des vorherigen Lebens bestraft. Er war ein Krüppel gewesen, der sich nicht bewegen konnte. Jetzt war er stark und besaß brauchbare Gliedmaßen. Was hatte er mit seiner Freiheit angefangen? Er hatte sich vom Himmel entfernt, hatte Menschenfleisch verschlungen und war von Lust erfüllt gewesen.
Also halte dich nun an den Glauben. Herr, höre mich an. Ich war ein böser und ehrloser Mann, ich verdiene nicht die Erlösung, die du mir geschenkt hast. Strecke mich nieder, o Herr, lass mich wieder leiden. Mach mich wieder so, wie ich war, und vernichte diesen Dämon, der in mir wächst.
»Fahren wir nicht mit diesem Ding auf das Meer hinaus?«, fragte Astarth.
»Bin ich verrückt?«, gab Ofaeti zurück.
»Ja«, antworteten alle Krieger sofort. Jehan konnte nicht mit ihnen lachen. Er dachte nur an den Norden, an das bleiche Mädchen, das neben ihm saß, an ihre kalte Hand, die er hielt und die ihn zu seinem unbekannten Schicksal zog.
Als sie weiterfuhren, erregten sie nicht mehr so viel Aufmerksamkeit. Hier waren die Wikinger zwei Jahre zuvor besiegt worden, ihr König war zum Christentum konvertiert, und einige hatten sich niedergelassen. Die jungen Burschen hänselten sie und nannten sie Eisfresser und Walficker, aber sie wurden nicht angegriffen. In einem Dorf wurden sie sogar beinahe freundlich willkommen geheißen. Ein achtjähriges Mädchen drückte Ofaeti eine Girlande aus Schneeglöckchen in die Hand.
»Für den Segen des Krähenmannes«, sagte sie, »für den Zauberer deines Volks.«
»Wir hielten euch alle für Barbaren, aber er hat meinen Sohn von dem Fieber gerettet«, erklärte eine Frau.
Jehan konnte kaum aufnehmen, was sie sagen wollten. Er bekam das angebotene Essen nicht herunter, so sehr er es versuchte. Das Brot, das er kaute, war zäh wie ein Wundverband, das gekochte Hühnerfleisch klebte wie nasses Leder am Gaumen. Er war nicht hungrig, noch nicht, und dafür dankte er Gott.
Sie fuhren weiter und erreichten flaches Land, der Fluss wurde breiter, und der Himmel war ungeheuer weit und blau. Als die Dämmerung kam, senkten sich tiefe Schatten über das Wasser, in dem sich noch die untergehende Sonne spiegelte. Die Gesichter und Hände der Krieger schimmerten wie Kupfer.
»Wir müssen ein Schiff finden«, sagte Fastarr.
»Das ist alles im Plan enthalten«, beruhigte Ofaeti ihn.
»Haben wir einen Plan?«, wollte Egil wissen.
»Oh, gewiss«, bekräftigte
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