Clemens Gleich
Wanderschuhe, prüfte jede Naht ihrer Wanderschuhe ein zweites Mal, steckte irgendwann noch Nähzeug ein, verkochte den Tee, machte einen neuen und fürchtete dabei jeden Moment, dass die Wache an die Tür klopfen könnte. Nachdem sie sich so verausgabt hatte, setzte sie sich hin, atmete tief durch und schlürfte endlich ihren verdienten Tee. Sehr beruhigend. Prompt fiel sie in erschöpften Schlaf, von wirren Träumen verfolgt, in denen van Erster Füller in ihrem Klo versteckte, mit denen er sie piekte.
Erst Stunden später erwachte Jianna wieder. Sie stellte fest, dass sie auf dem übriggebliebenen Nähzeug saß, das ihr in die Weichteile stach. Draußen war es nicht nur stockdunkel, sondern auch ziemlich still. Es musste also schon sehr spät sein, genau die richtige Zeit für ihre kleine Flucht. Sie prüfte diese Hypothese, indem sie den Stand der Sonne auf ihrer Taschensonnenuhr ablas. Korrekt. Am Bett flüsterte sie:
"Hey! Du! Pikmo! Komm raus!" Beinahe lautlos faltete sich Pikmo aus seinem Versteck heraus.
"Hilfst du mir?", fragte er sie hoffnungsvoll.
"Ja, ich helfe dir. Aber erstmal..." Sie warf ihm einen Umhang über. "...zieh das hier an. Wir müssen aus der Stadt raus. Hier suchen sie überall nach dir." Als Pikmo sich mit dem Umhang bedeckt hatte, führte ihn Jianna durch die Hintertür in die Nacht und den Nebel der Hauptstadt Romala.
Kapitel 2
Was war
...worin erörtert wird, wie das passieren konnte ~ Ausreichende Alkoholzufuhr ~ Die Erschaffung eines Lebens wird unterbrochen ~ Das Wunder im Abfall ~ Ein unplanmäßiger Besuch ~ Die andere Welt
Eine unbescholtene, nie auffällige, fast schon respektable Bürgerin auf der Flucht mit einem Felligen, teuer wie ein Haus! Wie konnte das passieren? Die Erörterung dieser Frage beginnt fünf Jahre früher unter ausreichendem Alkoholeinfluss.
Eine junge Dame, blass und sommersprossig, trat aus dem Rathaus auf den gepflasterten Platz davor, den es dominierte wie ein gutaussehender Tyrann. Die Dame sah zwar gut gekleidet, doch ansonsten wenig aufregend aus: dunkles, leicht lockiges Haar, noch dunklere Augen, in denen der Weltschmerz geschrieben stand. Sie trug eine Urkunde als Trophäe durch den Ausgang, und als sie diese ansah, musste der Weltschmerz doch für einen Moment grinsender Freude weichen. Plötzlich stürzte sich eine kleine Schwarzhaarige auf sie, die kreischte wie eine Sopransängerin am Spieß.
"IIiieehjaaaa! Du hast es gemacht! Du hast es geschafft!"
"Mara, du erwürgst mich!", röchelte das Opfer.
"Ich glaub's nicht!" Mara riss das Dokument an sich. "Hm, hm", machte sie. Ihr Beschluss: "Elis, meine Liebe, du wirst dich jetzt mit mir betrinken."
"Klingt gut. Vor allem schnell weg hier."
"Du hast recht." Mara rümpfte ihre Stupsnase. "Es müffelt hier. Nach Beamtenfurz."
Sehr wenig später waren die beiden ein wenig sehr betrunken. Sie saßen in einer kleinen Kneipe, in der man unter sich sein konnte, rein geschlechtlich gesprochen. Suna, die Pächterin, hatte es tatsächlich geschafft, ein Etablissement nur für Frauen durchzusetzen. Eine zu günstigen Konditionen gemietete bärenstarke, weil bärige Fellige hielt die sporadisch auftretenden Männer draußen, die das partout nicht einsehen wollten. Der weibliche Touch reichte von der Tür bis zur Theke, von den Fenstern zu den Klos und vom Boden bis zur Decke: Überall stand nett drapierter Krusch, kleine Kätzchen aus Porzellan in niedlichen Posen, Kerzen in handgetöpferten Haltern, von irgendwelchen Edlen Wilden gefertigt, Tischdeckchen, Blumen und auf der Theke präsentierte ein geschnitzter Gecko eine immer aktuelle Sammlung von Spruchkarten, die mittlerweile schon eine bescheidene Berühmtheit erreicht hatte. Alles war farbenpsychologisch wohl durchdacht, selbst einen kleinen Holzofen mit Glasfront hatte Suna installiert. Es war, um es kurz zu sagen, einfach saugemütlich – solange man eine Frau war.
An einem Ecktisch saßen die beiden Mädels mit alkoholgeröteten Wangen und prosteten sich mit irgendetwas Rubinrotem in bauchigen Glasschalen zu. Schon allein der Anblick des Getränks konnte beschwipst machen oder gleich Kopfschmerzen. Mara lehnte sich in einer Pose, die sie als verschwörerisch vermutete, über den Tisch. Sie verbrannte sich an der Kerze. Sie schob die Kerze in eine ihr sicher scheinende Entfernung und fing von vorne an. Der Tisch wackelte, die Kerze fiel, der Halter brach, doch was Mara zu sagen hatte, war viel zu wichtig, um von solchen
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