Clemens Gleich
seiner Fassung. Der namenlose Techniker fummelte an der gegenüberliegenden Wand an einer Konsole herum, bis sich die Lamellen um den Glaszylinder leise zusammenfalteten und den Blick auf einen blauen Menschenkater freigaben, der für Maras Begriffe schon erstaunlich groß war. Fasziniert trat sie näher. Sie berührte das Glas und besah sich Pikmo von ganz nah. Er war so groß wie ein Kleinkind, in Fötenstellung gerollt, mit demselben friedlichen, engelhaften Gesichtsausdruck wie Menschenkinder. Mara war fasziniert. Der junge Mann trat neben sie.
"Alles in Ordnung?", fragte er. Mara blickte ihn finster an.
"Natürlich. Kannst du mehr Licht machen?"
"Äh... Das darf ich nicht, mehr Licht ist in diesem Stadium nicht erlaubt", stammelte er. Maras Augen verharrten einen Moment lang strafend auf einem kaum verheilten Mitesser links über dem Auge ihres Gegenübers, dann wandte sie sich wortlos wieder Pikmo zu. Hatte er sich gerade bewegt, hatte da gerade ein Finger gezuckt? Der Techniker kramte in einer Ablage herum, aus der er einen ansehnlichen Packen Papier herausraschelte.
"Hier ist... hier ist Ihr Bericht", keuchte er. Maras Gesicht zeigte einen Ausdruck, der normalerweise für Schaben hinter der Toilettenschüssel reserviert blieb.
"Was glaubst du, wer Frau Siebenring ist? Eine Lektorin?", fragte sie ihn feindselig. "Du schreibst und schickst ihr jetzt eine Seite, auf der steht, dass alles soweit in Ordnung ist. Das ist es doch, hoffe ich?"
"Naja, also, ich, wir, wenn man... andererseits ... so im großen und ganzen ... berücksichtigt man, äh...", wand er sich. Sie hob eine Augenbraue, schaffte es, das drohend zu tun.
"Äh. Ja. Eigentlich ist wirklich alles soweit in Ordnung", fügte er sich.
"Dann schreib das jetzt auf", befahl Mara. "Ich warte hier."
Auf dem Abfallhaufen lagen zwei missratene Pikmo-Klone. Das war normal. Sie zuckten jedoch noch, und das war nicht normal. Eigentlich waren die Maschinen instruiert, etwaig noch vorhandenes Leben auszulöschen, bevor sie einen Klon dem Biorecycling überantworteten. Diese zwei Exemplare waren also das, was der Schreiber unter anderen Umständen als "ein Wunder" beschrieben hätte. Sie waren außerdem im Wachstum hinter Pikmo ein wenig zurückgeblieben. Vollkommen von Gel verklebt rangelten die beiden miteinander wie blau gefärbte Kinder, für die sie unbedarfte Beobachter halten mochten. Rangeln. Abrutschen. Repeat. Niedlich. Einer der beiden hob schließlich seinen Kopf und öffnete den Mund. Er würgte und hustete Gel aus sich heraus, in dem sich blutige Schlieren zeigten. Dann sog er zum ersten Mal in seinem kurzen Leben die widerlich säuerliche Luft ein, die er in einen kläglichen Schrei presste. Sein Zwilling schien es ihm gleichtun zu wollen, doch dem hielt er den Mund zu, bis er anfing, wild zu zappeln. Seine Finger rutschten aus dem Gesicht ab, wo sie Krallenspuren hinterließen, die langsam voll Blut sickerten. Er schrie noch einmal. Es klang ähnlich unmenschlich wie der nächtliche Gesang einer Katze. Der Schreihals packte sein Ebenbild am Hals, um ihm fachmännisch den Puls der Schlagader abzudrücken. Dieser Teil seiner Konditionierung schien bereits zu funktionieren. Wenige Momente später war Pikmo Nummer sechs planmäßig tot. Nummer fünf lebte immer noch, und damit das so blieb, biss er ein blutendes Stück aus seinem Bruder. Er zeigte dabei keine Gefühlsregung. Weder schien es ihm besonderen Spaß zu bereiten, noch Mitgefühl oder gar Reue hervorzurufen. Er hatte Hunger, deshalb aß er in geradezu meditativer Konzentration. In der Zwischenzeit hatte der Rüssel weiteren Abfall in den Container gespien und damit einen Gewichtssensor aktiviert. Dieser hatte pflichtschuldig Meldung in einem peripheren Kontrollhirn gemacht, das wiederum Befehl gab, den Container zu leeren. Langsam schob eine Hydraulik die Leichen in Richtung Himmel.
Unter Philosophen mit nichts Besserem zu tun hatte es vor einiger Zeit tatsächlich eine lange, breite, öffentliche Diskussion darüber gegeben, ob Fellige ein Leben nach dem Tod, ja, ob sie überhaupt eines vor dem Tod hatten. Man ging von dort recht bald zur Frage über, ob man seine teuer gekauften Sklaven auch posthum noch sein Eigen nennen kann und das Ganze endete schließlich recht abrupt, als jemand zum Thema "Sex nach dem Tod" kam. Die Philosophen hatten auf einmal Besseres zu tun: Sie verlagerten dieselbe Diskussion auf Maschinen, weil dort hoffentlich niemand gleich an Sex dachte – ein Thema,
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