Cleo
Fellbündel. Andere schliefen. Wirklich sehr niedlich. Ein kleines graues Kätzchen kletterte an dem Maschendraht nach oben und zog sich Pfote um Pfote bis über unsere Köpfe hoch. Um den Käfig hatte sich mittlerweile eine Schar Kunden versammelt, alle mit einem sanften Ausdruck auf dem Gesicht, so wie auf einem Porträt von Leonardo da Vinci. Unter ihnen befand sich auch ein ungepflegt aussehender Mann, den ich schon auf der Straße bemerkt hatte. Er hatte so schlecht gelaunt und in sich gekehrt gewirkt, dass alle Leute einen großen Bogen um ihn gemachthatten. Während er nun den Kätzchen zusah, fiel Schicht um Schicht sein Ärger von ihm ab und sein unrasiertes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er lehnte sich gegen den Draht und beobachtete die Kleinen mit dem größten Wohlwollen. Dann fiel sein Blick auf das graue Kätzchen, dem plötzlich klargeworden war, dass das Herunterkommen doch um einiges schwieriger war als das Hinaufklettern. Ängstlich blickte es zuerst auf den Boden, dann wieder zur Käfigdecke. Höher hinauf ging es nicht mehr. Es blieb ihm keine Wahl. Das Kätzchen vollführte eine beeindruckende Rolle rückwärts und landete sicher auf allen vieren. Der Mann lachte. Vielleicht hatte das Kätzchen ihn an sich selbst erinnert, wie er gen Himmel strebte, nur um dann zurück auf die Erde zu plumpsen.
»Können wir nicht eine mit nach Hause nehmen?«, fragte ein Teenager seine Mutter. Auch er war wie gebannt. Wenn der Junge seine Mutter überreden konnte, ein Kätzchen mitzunehmen, dann erwartete es eine ehrenvolle Aufgabe. Er war geistig behindert.
Eine traurige Frau deutete auf eines der hübschen Schildpattkätzchen. Vielleicht lebte sie allein und das leise Getrappel der Samtpfoten würde ihre Einsamkeit mildern.
Jedem Kätzchen in dem Käfig stand eine Aufgabe bevor, Menschenherzen mussten geheilt und Lektionen über das wahre Wesen der Liebe erteilt werden. Nicht eines war darunter, das ich nicht gerne hochgenommen und sanft an meine Brust gedrückt und gewärmt hätte. Aber an diesem Tag wollte ich keines mitnehmen.
Katzen sind nicht etwas, das man »kriegt«. Sie tauchen im Leben eines Menschen auf, wenn sie gebraucht werden, und sie haben einen Auftrag, den man anfangs vielleicht gar nicht versteht. Ich hätte so bald nach Sams Tod sicher keinKatzenjunges gewollt. Nicht bewusst jedenfalls. Aber das Leben steckt voller Widersprüche. Manchmal ist etwas, von dem man meint, es nicht zu wollen, genau das, was man braucht. Cleos Zärtlichkeit, ihre Späße und ihre Hochnäsigkeit waren genau das, was wir brauchten, um unseren Blick von diesem Abgrund an Traurigkeit abwenden zu können und uns daran zu erinnern, welche Freude es bedeuten kann, zu leben und zu amten. Sie brachte uns bei, loszulassen, zu lachen und uns am Riemen zu reißen, wenn nötig.
Cleo wachte über uns und begleitete jeden unserer Schritte. Sie blieb so lange bei uns, wie wir sie brauchten – was, wie sich zeigen sollte, ein, zwei Jahrzehnte länger dauerte als erwartet. Ob sie nun Sam oder die ägyptische Katzengöttin geschickt hatte, jedenfalls ließ sie uns ihre Heilkräfte großzügiger zuteil werden, als man das von irgendeinem Lebewesen erwarten konnte.
Als wir dem Leben wieder zu vertrauen begannen, passierten wahrhaft magische Dinge. Genau zum richtigen Zeitpunkt tauchten so wunderbare Menschen wie Ginny, Jason, Anne Marie und Philip auf. Cleo überwachte jede dieser Begegnungen und manchmal machte es fast den Eindruck, als hätte sie sie arrangiert. Diese Menschen und viele andere haben uns geholfen, über den Verlust von Sam hinwegzukommen, und dafür bin ich ihnen dankbar. Wobei ich nicht so anmaßend sein und behaupten möchte, dass wir wirklich darüber hinweg sind. Wir haben uns verändert, sind gewachsen. Sam, sein Leben und sein Tod werden immer Teil von uns sein.
Zorn wich irgendwann der Vergebung und Jahre später erfuhr ich mit ungeheurer Erleichterung, dass Sam nicht allein und verängstigt gestorben war. Ich stellte fest, dass es Superman tatsächlich gibt. Er ist der Held, der sich bei einemUnfall nicht abwendet, sondern bleibt und alles in seiner Macht Stehende für die Opfer tut. In unserem Fall war sein Name Arthur Judson.
Jahrelang bin ich bewusst nicht zu unserem Ziegenpfad in Wellington zurückgekehrt. Ginny war sensibel genug, das zu verstehen, und übte nie irgendwelchen Druck auf mich aus, sie zu besuchen. Wir trafen uns in Australien oder anderen Teilen Neuseelands,
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