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Cleo

Titel: Cleo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Brown
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Hauptsache, es wurde ein guter Sauvignon serviert. Aber irgendwann war meine Neugier stärker als meine Angst. Ich bereitete mich innerlich darauf vor, dass mich herzzerreißende Bilder überfallen würden, während das Mietauto den Hügel nach Wadestown hochschnaufte. Als wir um die erste Kehre fuhren und dann um die zweite, stellte ich fest, dass es immer noch ein Stück öffentliches Land gab, einen winzigen Park, von dem aus man den Hafen überblickte. Ich hatte früher daran gedacht, dort eine Statue in Erinnerung an Sam zu errichten, aber Beton und Stahl strahlen keine Wärme aus. Es gibt bessere Möglichkeiten, eines toten Kindes zu gedenken.
    Die Straße führte ein Stück geradeaus, dann verjüngte sie sich und wurde zur Fußgängerbrücke hin, die nach wie vor wie ein Galgen über dem Graben hing, noch steiler. Als wir sie passierten, stürmten alle möglichen Eindrücke gleichzeitig auf mich ein. Die Treppe zur Brücke, der Straßenrand, wo Sam sich vor all den Jahren zu seinem Bruder umgedreht und gesagt hatte: »Sei still.« Der raue Asphalt, über den sein Blut geflossen war. Es drückte mir das Herz ab. Warum nur setzte ich mich all dem aus?
    Die Häuser auf unserer Seite schienen alle einen farbenfrohen neuen Anstrich erhalten zu haben und die Gärten machten einen gepflegteren Eindruck als früher. Überraschtsah ich, dass der Ziegenpfad am Ende der Straße verschwunden war. Ginny hatte mir damals davon erzählt, als die Nachbarn sich alle zusammengetan hatten, um sich eine Zufahrt zu ihren Häusern planieren zu lassen, aber so verändert hatte ich es mir nicht vorgestellt. Der alte Ziegenpfad mit seinen Biegungen und Kurven war durch eine langweilige Straße ersetzt worden, die pfeilgerade den Hügel hinunterführte. Ich stand oben auf dem ehemaligen Ziegenpfad, der jetzt eine Straße war, und starrte auf die Stadt. Sie hatte sich mittlerweile weiter die Hügel hinauf ausgebreitet. Es gab eine ganze Reihe neuer Bürotürme. Von Süden her wehte ein scharfer Wind.
    »Ein Glas Blubberwasser, Herzchen?«, fragte eine vertraute Stimme. Ginny und ich umarmten uns. Ihre Lachfalten und grauen Strähnen machten sie nur noch schöner. Die Strumpfhose mit Leopardenmuster und die riesigen Ohrringe waren durch einen fließenden Rock und eine Seidenbluse ersetzt worden, mit denen sie auch auf  Mailands Straßen eine gute Figur gemacht hätte.
    Gemeinsam gingen wir die neue Straße ein gerades Stück zu Ginnys Haus hinunter, das früher einmal zwei Windungen des Wegs gewesen waren. Ich vermied es, mich zu unserem ehemaligen Bungalow umzudrehen. Ein einziger Blick konnte ein ganzes Heer von Dämonen freisetzen. Der Dschungel um das Haus der Desilvas war verschwunden, aber es wirkte genauso heiter wie ehedem. Während Ginny den Champagnerkorken knallen ließ, erzählte sie mir, dass sie und Rick sich in der Stadt nach einer Wohnung umgesehen hätten, aber es ginge einfach nichts über die Bequemlichkeit und den Ausblick dieses Hauses.
    Ich nickte und sah mich um. Ginnys Geschmack in Sachen Einrichtung hatte sich von 80er-Jahre-Bombast zueuropäischer Schlichtheit entwickelt. Nachdem sie nun schon fast dreißig Jahre hier lebten, gestand Ginny, seien sie und Rick zu so etwas wie festen Größen in der Nachbarschaft geworden. Die Butlers waren vor zehn Jahren weggezogen und Mrs. Sommerville war mittlerweile in das große Lehrerzimmer im Himmel gewechselt.
    »Und unser altes Haus?«, fragte ich vorsichtig.
    »Eine Zeit lang haben ein Football-Spieler und seine Freundin darin gewohnt«, sagte Ginny. »Dann kamen Leute, die es renovieren wollten, aber sie haben aufgegeben. Seither ist es vermietet. Von oben hat man einen guten Blick darauf, erinnerst du dich?«
    Ich folgte ihr langsam die Treppe hinauf, beruhigt von dem Gedanken, dass Ginny schon wissen würde, was zu tun war, wenn ich zusammenbrach. Sie zog eine Gardine beiseite und winkte mich zum Fenster. Ich erkannte unseren alten Bungalow fast nicht wieder. Der Vorgarten mit dem von Vergissmeinnicht gesäumten Fußweg war ebenso wie die Grabungsstätte der Jungen verschwunden und an seiner Stelle befand sich jetzt eine riesige Betonfläche, die groß genug war, um dort zwei Autos nebeneinander abstellen zu können. Durchaus vernünftig. Keine Trecks mehr mit den Wocheneinkäufen im strömenden Regen zur Haustür. Nicht dass die sich noch ähnlich sah. Das dunkle Holz war weiß gestrichen, genauso wie die rustikalen Balken, die dem Haus einmal »Charakter«

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