Cleopatra
Kilometern, größtenteils über die Autobahn, die durch das Rhônetal führte, schien mir ein schnellerer Weg zu sein als die touristischen Umwege über Mailand und Locarno, die mir Lonneke aus unerfindlichen Gründen vorgeschlagen hatte. Vielleicht war sie doch nicht so gut als Salesmanagerin für die Benelux-Staaten geeignet.
Ich dachte über verwendbares Beweismaterial nach, während ich das Röntgenfoto in einen großen Umschlag steckte und in das Außenfach meiner Reisetasche schob. Ich packte ein paar Kleidungsstücke ein, legte meine Toilettensachen zurecht, stellte den Wecker und ging zu Bett.
9
Ich liebe die Schweiz im Sommer. Alles ist grün, die Wiesen blühen, braune Kühe grasen glockenläutend an den Hängen, überall rauscht Wasser, und wenn man hinaufschaut, in das unwirklich transparente Licht zwischen den hochgelegenen Schluchten und den glitzernden Felswänden der Alpengipfel, wird alles Menschliche unbedeutend.
Weder Touristen noch Vorurteile haben dieser Postkartenidylle etwas anhaben können. Dies ist die Ewigkeit. Gletscher wanderten durch das Land und formten seine Berge und Täler, als die Urahnen der Menschheit sich gerade erst im Stadium von Einzellern befanden.
Grächen lag in sechzehnhundert Metern Höhe an einem der Hänge des Nikolaitals. Autos durften nicht weiter fahren als bis zum Parkplatz, der wie eine Muschel ins Zentrum des Dorfes eingebettet war. Handkarren der verschiedenen Hotels standen bereit, um den Touristen das leidige Kofferschleppen so weit wie möglich zu ersparen, doch noch bevor ich meinen Kofferraum geöffnet hatte, stand schon ein aufgeweckter Dorfjunge mit einer Kiste auf alten Fahrradrädern da. Er nahm meine Reisetasche entgegen, warf einen Blick auf mein Genfer Nummernschild und sagte: »Grüß Gott.«
Die Rückseite des Grächer Hofs lag zum Parkplatz hin, die Vorderseite schaute auf das Nikolaital. Es gab noch einige andere Hotels, kleine Läden mit Skizubehör, Mode für das Après-Ski, Souvenirs und drehbaren Ständern mit Ansichtskarten. Ein schmaler Weg führte an den Läden vorbei hinauf zu einer kleinen Kirche mit einem ummauerten Friedhof und hier und dort lagen am Hang ein paar Chalets mit Balkonen voll blühender Fuchsien und Geranien. Ein Sessellift transportierte Wanderer hoch über den blühenden Skihängen schwebend nach oben. Alles ging langsam, ländlich und bedächtig vonstatten – der größte Vorteil der Schweiz im Sommer.
Ich nahm meine Tasche aus dem Karren und gab dem Jungen ein Trinkgeld, der sofort wieder in Richtung Parkplatz davontrabte. Ich blieb in der Tür stehen und betrachtete das von dunklem Holz dominierte Interieur des Grächer Hofs. Das Haus erweckte den Eindruck eines ländlichen Mittelklassehotels, in dem man bequem wohnen konnte ohne aufzufallen.
In all dem steckte eine gewisse Ungereimtheit. Das ganze Dorf wirkte ruhig, unauffällig und gemütlich, ein wenig abgelegen, weit weg von den mondänen Skiorten, wo Filmstars, Popmusiker und Textilmagnaten sich ein Stelldichein gaben. Ich konnte diesen Ort absolut nicht mit dem Bild in Übereinstimmung bringen, das ich mir von Cleopatra gemacht hatte.
Es waren noch Zimmer frei und ich wählte eins im ersten Stock mit Aussicht auf das Nikolaital. Ich nahm eine Dusche, zog ein sauberes Hemd an und gönnte mir eine Zigarette auf dem kleinen Balkon. Danach steckte ich den Umschlag mit dem Röntgenbild unter mein Jackett und ging hinunter.
Die junge Schweizerin, bei der ich das Zimmer gemietet hatte, saß am Empfang in der verlassenen Eingangshalle und las in einer Zeitschrift. Ihr Englisch war besser als mein Schwyzerdütsch.
Ich erklärte ihr, dass ich an der Biografie einer mittlerweile verstorbenen niederländischen Schriftstellerin arbeitete, die hier in Grächen im Februar 1972 mehrere Wochen lang an ihrem wichtigsten Roman, Die weiße Rose der Versöhnung, gearbeitet habe.
»In unserem Hotel?«, fragte sie fasziniert.
»Ich glaube ja«, antwortete ich. »Ich bin mir sicher, dass es in Grächen war, und Ihr Hotel ist typisch für eines, in dem sie sich wohl gefühlt hätte und das für sie eine Quelle der Inspiration gewesen wäre. Aber ich muss natürlich ganz sichergehen, um es in meiner Biografie erwähnen zu können.«
Dieser Gedanke gefiel ihr sichtlich. »War sie eine bekannte Autorin?«
»Ihr Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Ihr Name ist Cleopatra Cleveringa, aber vielleicht hat sie auch ihr Pseudonym Cleopatra Teulings benutzt.«
»Ich kenne
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