Cleopatra
Cleveringa.«
Frau Doktor Grüber kam offenbar zu dem Schluss, dass Informationen über ein gebrochenes Bein weniger streng gehütet werden mussten als das Schweizer Bankgeheimnis. Sie nahm das Bild aus dem Umschlag, hängte es vor eine Leuchttafel an der Wand und schaute es sich einen Moment an.
»Vielleicht bei den Negativen … Einen Augenblick bitte.« Sie verschwand in einem angrenzenden Raum und kehrte zehn Sekunden später mit einem schwarzen Klemmordner wieder zurück.
»1972, Februar …« Sie blätterte transparente Seiten mit Negativen durch und studierte die Namen und Codes. Schließlich hob sie den Kopf. »Ich habe hier einen Beinbruch vom sechsten Februar«, sagte sie. »Aber ich denke, Sie können die Familie beruhigen. Diese Aufnahme stammt nicht von Frau Cleveringa.«
Sie nahm das Negativ aus der Mappe und legte es in einen Apparat ein, der es neben das Röntgenfoto auf die Leuchttafel projizierte. Sie schaute vom Foto zur Projektion und wieder zurück. »Es ist schwer zu sagen, ohne Analyse … Es ist eine Frage des Aufnahmewinkels …«
»War das der einzige Beinbruch in diesem Monat?«
»Nein, aber der Einzige bei einer Frau«, antwortete sie abwesend. »Ich kann der Sache nachgehen. Vor zehn Jahren haben wir die älteren Verwaltungsdaten alle in den Computer eingegeben.«
Vermutlich sind die Schweizer die gründlichsten Archivare der Welt. Frau Doktor Grüber öffnete einen Schrank und holte eine Schachtel mit Disketten heraus. Sie wählte eine aus und schob sie in den Computer auf ihrem Schreibtisch.
»Voilà«, sagte sie nach kurzer Suche. »Niemand mit dem Namen Cleveringa. Das hier war eine Frau Boerman. Sie war mit ihrem Ehemann hier, Herrn Jean-Marie Boerman. Sie gaben eine Adresse in Südfrankreich an, in La-Grande-Motte. Er bezahlte die Rechnung mit einem Scheck der Credit Lyonnais. Das Bein wurde gerichtet, es war kein komplizierter Bruch.«
Wieder runzelte Frau Doktor Grüber die Stirn, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ah … jetzt wird mir einiges klar. Der Gips wurde auch hier entfernt. Das ist nicht üblich; die Feriengäste fahren normalerweise mit dem Gips nach Hause und lassen ihn dort abnehmen, aber ich sehe hier, dass Frau Boerman im dritten Monat schwanger war. Ich nehme an, dass mein Mann ihr geraten hat, sich ruhig zu verhalten, denn bei einer Fraktur hat man ja doch einen tüchtigen Sturz hinter sich.«
Kein Zweifel möglich, dachte ich. »Ist es normal, dass Frauen Ski laufen, wenn sie im dritten Monat schwanger sind?«
»Das ist gar kein Problem, wenn es sich um eine gesunde junge Frau handelt«, sagte sie, als hätte ich sie persönlich beleidigt. »Bergbewohnerinnen stehen oft noch bis wenige Tage vor der Geburt auf den Brettern.«
Ich lächelte entschuldigend. »Ist ihr Vorname angegeben?«
»Nein«, sagte sie. »Nur ein C.« Sie blickte auf und runzelte die Stirn. »Derselbe Buchstabe, aber … Seit wann wurde die Frau vermisst?«
»Erst viel später«, antwortete ich. »Sie verschwand zehn Jahre danach. Ich kann mir vorstellen, was Sie denken.«
Es war sonnenklar. Wenn Cleopatra als vermisst gelten wollte, war es logisch, dass sie einen falschen Namen benutzte. Allerdings konnte zu der Zeit, als sie sich hier das Bein brach, von vermisst noch keine Rede sein. Bis zu dem Tag des Flugzeugunglücks 1980 war sie ganz einfach Frau Cleveringa gewesen.
Der Blick von Frau Doktor Grüber wanderte wieder zwischen Foto und Projektion hin und her. »Es sieht aus, als sei es derselbe Bruch«, sagte sie. »Natürlich ist zwischen den Aufnahmen einige Zeit vergangen. Die eine zeigt den frischen Bruch, während der auf der anderen mindestens zehn Jahre älter aussieht. Gewebe … Nun ja. Das Problem besteht vor allem im unterschiedlichen Aufnahmewinkel.«
»Warum?«
»Wenn eine Fraktur eindeutig identifiziert werden soll, fertigt die Polizei Aufnahmen aus verschiedenen Winkeln an. Das Bild, das sie in den Krankenhäusern herumgehen lässt, ist normalerweise das, das dem wahrscheinlichsten Aufnahmewinkel bei der jeweiligen Fraktur entspricht. Meist wählt man eine Frontalaufnahme; sie reicht in der Regel für eine vorläufige Identifikation. Ein solches Bild haben Sie mitgebracht. Unseres weicht etwa dreißig Grad von Ihrer Aufnahme ab. Es könnte sein, dass die Frau – aus welchem Grund auch immer – auf der Seite oder halb auf die Seite gedreht lag, das Bein ein wenig nach hinten gestreckt, als mein Mann die Aufnahme machte. Jedenfalls ist eine
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