Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
beeindruckt. Vielleicht hatte Bahadur ihm ja die Wahrheit gesagt - möglicherweise hatte er ihm die Waffe wirklich nur zu seinem persönlichen Schutz abgeluchst. Nun gut, dann soll es so sein. Joe dachte sich, dass Bahadur niemandem vertrauen konnte; womöglich befand er sich in wirklicher Todesgefahr aus unbekannter Hand, und sein einziger Schute war die Browning.
Der Himmel möge es verhüten, aber wenn dem so sein sollte, würde er noch einmal froh sein, ihm die Waffe gegeben zu haben. Joe mahnte sich zur Ruhe. Er sollte sich jetzt besser anziehen. Ihm blieb nur noch eine Stunde, um den Bericht für Claude fertig zu stellen.
Er kam sich ziemlich albern vor, wie er in seiner Abendgarderobe - dem zugesagten Smoking und der weißen Fliege, alles in letzter Sekunde vom Personal des Palastes gebügelt - am Schreibtisch saß. Joe fand Schreibpapier und einen hervorragenden Füllfederhalter, voll mit schwarzer Tinte, und machte sich an die Arbeit. Die Worte flossen mühelos auf das Papier, kein Detail wurde ausgelassen, und Joe war zufrieden mit seinem Bericht. Er faltete ihn und steckte ihn in seine Smokingtasche. Nach einem schuldbewussten Blick auf die Cartier-Uhr steckte er sie in die andere Smokingtasche, weil er nicht wusste, was er mit ihr anstellen sollte und Sicherheitsvorkehrungen in seiner Suite praktisch nicht existierten. Er zog an der Glocke und wartete auf seine Eskorte zum Speisesaal. Er hatte noch zehn Minuten. Perfekt!
Während er wartete, stellte er sich vor den Drehspiegel und warf einen letzten Blick auf seine Erscheinung. Der Smoking, der ihm in Kalkutta auf den Leib geschneidert worden war, saß sehr gut. Die schmale, hüftlange Jacke schmeichelte seiner schlanken Gestalt und ließ die Beine länger erscheinen. Sein blitzsauberes weißes Hemd und die Fliege betonten ein Gesicht, das nach einem Jahr in der Sonne geschwärzt erschien. >Wenn das so weitergeht, gehe ich in Kürze als Einheimischer durch<, dachte Joe und rückte die Fliege zurecht. >Aber wohl eher nicht, mit diesen Augen.< Hellgrau war keine indische Farbe. >Kampfelefant! Also ehrlich!<
Es verwirrte ihn, als er sich kurz fragte, was Madeleine von ihm halten würde, nachdem all die Staubund Schweißschichten abgewaschen waren. Schuldbewusst rief er sich in Erinnerung, dass man natürlich nicht erwarten konnte, dass sie nur wenige Stunden nach dem Tod ihres Gatten am Abendessen teilnahm.
Die beruhigende Gestalt von Govind tauchte hinter ihm im Spiegel auf. »Die Weste ist doch hoffentlich nicht zu ausgefallen, Govind?«, fragte Joe. »Was denken Sie?«
Govind überlegte einen Moment. »Es ist alles perfekt, Sahib. Genau so, wie es sein soll. Vielleicht noch ein Taschentuch?«
Sie machten sich auf den Weg zum Alten Palast, auf derselben Strecke, die sie schon gekommen waren. »Der Empfang findet heute Abend im Festsaal statt«, erklärte Govind. Dann wurde seine Stimme leiser und ernster. »Der Palast - das ganze Land - trauert um den jungen Prinzen, und zwar zwölf Tage lang. Sie sind zu einer unseligen Zeit gekommen, Sahib .«
»Sie müssen mir sagen, wie ich es vermeiden kann, im Weg zu sein«, bat Joe besorgt. »Geben Sie ein wenig auf mich Acht, Govind, damit ich in meiner Unbedachtheit niemanden vor den Kopf stoße.«
»Ich glaube, der Sahib besitzt die Bedachtsamkeit eines Elefanten.« Govind lächelte und nickte.
Einen Augenblick lang war Joe bestürzt, dann fiel ihm wieder ein, dass die rajputischen Krieger, die mit Elefanten lebten, arbeiteten und manchmal kämpften, diese Tiere für ihre Intelligenz und Diskretion verehrten. Er erwiderte das Kompliment mit einem Nicken.
»Die Trauerfeier wird morgen Nachmittag auf dem Samshan - dem Feuerbestattungsplatz - am Fluss stattfinden. Sie und die anderen Gäste sind davon nicht betroffen. Der Palast hat viele Attraktionen für Sie zu bieten, während wir mit unseren religiösen Riten beschäftigt sind.«
»Ich verstehe«, meinte Joe zweifelnd. Eine Situation, die gesellschaftlich ohnehin heikel war, versprach nun, unmöglich zu werden. »Gibt es Bereiche des Palastes und der Stadt, die ich besser meiden sollte?«
»Ja, Sahib. Die Trauerrituale werden in den Frauenquartieren durchgeführt, wohin der Herrscher gegangen ist, um bei der Maharani zu sein, der Mutter seines Sohnes. In der Zenana wird viel Wehklagen und Weinen herrschen. Die Frauen werden in Trauer ihre Armreifen über der Leiche des Yuvaraj zerbrechen und den Toten mit Blumengirlanden schmücken. Die Ereignisse
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