Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
schwieg einen Moment. Die Kraft dieser altbekannten Geschichte ließ ihn immer noch eine Pause in der Erzählung einlegen. »Sie riss den Prinzen aus seiner Wiege und legte ihr eigenes Baby hinein. Der mörderische Haufen traf ein und metzelte das Baby der Amme zu Tode. Der echte Prinz wurde aus dem Palast geschmuggelt, und als er Jahre später volljährig wurde, gab er sich zu erkennen und forderte schließlich sein Königreich zurück. Die Amme wird für ihre Loyalität von den Rajputen bis heute hoch in Ehren gehalten.«
»Eine schreckliche Geschichte«, murmelte Joe. »Und ja, ich kann mir schon vorstellen, dass eine ganz ähnliche Geschichte auf Gälisch an einem abendlichen Torffeuer in den schottischen Bergen erzählt wird!«
Er betrachtete Claude heimlich. Auf seine lockere, plaudernde Art hatte der Vertreter der britischen Regierung Joe vier - oder waren es fünf? - potenzielle Köpfe auf einem Tablett serviert. Joe sah, wie Claude in die Hände klatschte und mehr Kaffee bestellte. Wie sollte Joe die Stimmung des Mannes beschreiben? Mehr als entspannt, befand er - begeisterte Fei-erlaune. Nun ja, schließlich war ihm soeben eine bedeutende Stellung übertragen worden. Und der Schlüssel zum Staatsschatz. Joe kam ein unguter Gedanke: Da die anderen Erben aus dem Weg geräumt waren, lag Claudes Weg zur Regentschaft offen vor ihm, inklusive all der Macht und des Ansehens, das diese Position beinhaltete. Sir Claude und Lady Vy-vyan? Das klang passend. Und danach? Die Stelle des Gouverneurs? Der übernächste Vizekönig? Kein Wunder, dass sich der Vertreter der britischen Regierung und seine Gattin um das Wohlergehen des neuen Yuvaraj sorgten: Bahadur war der Schlüssel zu Claudes glänzender Zukunft.
Kapitel 17
Bahadur hatte sich bereits verändert. Die Schatten hatten sich aufgelöst, und die gute Laune des Jungen strahlte ihm aus allen Poren.
»Commander Sandilands!«, rief er, als Joe, eskortiert von Claude, in Lizzie Macarthurs Räumen im Alten Palast eintraf. »Ich hatte so gehofft, Sie zu sehen! Sagen Sie, Sir, haben Sie die gute Nachricht schon gehört?« Beim Sprechen kämpfte er sich aus der dunkelgrünen Laborschürze, die er getragen hatte, und warf sie ungeduldig auf den Boden.
»Das habe ich tatsächlich, und ich gratuliere dir zu deiner anstehenden Erhebung. Der Staat Ranipur kann sich angesichts dieser Wahl zum Thronfolger glücklich schätzen.« Joe verneigte sich höflich.
»Ich habe dem Yuvaraj meine Glückwünsche bereits übermittelt«, sagte Claude. »Ein wahrhaft glücksbringender Tag!«
»Tja, wenn Sie beide damit fertig sind, die Hacken zusammenzuschlagen und den Höfling zu mimen ...«, erklärte Lizzie knapp und bündig, »es gibt Dinge, die ich mit dem Commander besprechen muss.«
»Ja, natürlich. Danke, Mr. Vyvyan, dass Sie den Commander zu uns geführt haben«, sagte Bahadur. »Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«
Claude lächelte Joe mit einer rasch nach oben gezogenen Augenbraue zu, verneigte sich kurz zum Abschied und ging.
»Bahadur, mein Junge, warum verziehst du dich nicht eine Weile? Schwirr doch mit Jaswant ab.« Sie wies auf einen stummen, ältlichen Rajputen, der die triste Uniform eines königlichen Försters trug und in einer Ecke des Raumes verharrte. Er war ungewöhnlich klein und dunkelhäutig für einen Rajputen, und die Reglosigkeit des Mannes war so umfassend, dass es einige Zeit gedauert hatte, bevor Joe sich seiner Anwesenheit im Raum auch nur bewusst geworden war.
Joe sah sich in dem mit Büchern vollgestellten Zimmer um. Arbeitsbänke nahmen drei Wände ein. Lizzie und ihr Schützling waren auf hohen Stühlen gesessen, umgeben von aufgeschlagenen Büchern, Vakuumglocken, Schaukästen mit toten Insekten und Metalltabletts, auf denen wissenschaftliche Geräte standen. Der Herrscher musste Zeiss einen Großauftrag erteilt haben, dachte Joe und bemerkte zwei weitere Mikroskope auf einer daneben stehenden Bank. Auf einer Tafel in einer Ecke befand sich eine Kreidezeichnung, die, wie er vermutete, den menschlichen Blutkreislauf darstellte. Joe lächelte, als er in Miniaturform die Auferstehung der vertrauten akademischen Umgebung von Lizzies Jugend vor sich sah.
»Eine halbe Stunde, länger nicht, dann stehen wieder die Insekten an!«
Würdevoll erwiderte Bahadur: »Ich gestatte Ihnen gern, sich mit dem Commander zu beraten, Miss Macarthur. Ich werde in Kürze zurückkehren, da ich selbst ein Wort mit ihm wechseln möchte. In der Zwischenzeit ziehe
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