Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
hatte«, formulierte er bedachtsam. »Das war ungefähr eine Woche nach Bishans Tod. Wollen Sie damit sagen, dass der Bericht Sir George nie erreichte? Ich hatte mich schon gefragt, warum er keine Schritte unternahm - bis er Sie zu uns schickte. Ich habe eine Kopie des Berichts aufbewahrt. Ich bewahre von allem eine Kopie. Sie können gern einen Blick darauf werfen, wenn Sie wollen.« Er rutschte auf dem Stuhl umher. »Ich muss schon sagen, ich fühle mich ein wenig ... tja, wie? Ignoriert? Übersehen? Hören Sie, warum stopfen Sie nicht eine Kopie meiner Berichte über alle Todesfälle in Ihre Satteltasche, wenn Sie nach Simla zurückkehren? Nur für den Fall.«
»Es wäre mir eine Freude«, sagte Joe. »Sir, gibt es eine Möglichkeit - bevor wir alle auf Elefanten verfrachtet und in die Wildnis transportiert werden, um unsere Kräfte mit diesem Tiger zu messen -, dass ich mich mit Zalim Singh unterhalte? Absolut inoffiziell, versteht sich.«
»Das sollte nicht allzu schwierig sein.« Claude drückte seine Zigarre aus. »Aber es gibt jemand, der darum gebeten hat, Sie zu sprechen. Noch einmal. Bahadur möchte in seiner neuen Rolle als Yuvaraj ein paar Worte mit Ihnen wechseln. Ich sagte, ich würde Sie nach dem Mittagessen zu ihm bringen.«
»Ich freue mich schon darauf, ihn wiederzusehen. Unser erstes Gespräch war kurz und improvisiert, könnte man sagen. Aber wo finden wir ihn? Mir scheint, seine Gegenwart im Palast ist immer nur flüchtig. Er ähnelt einem Tropfen Quecksilber.«
»Eine ziemlich passende Beschreibung«, meinte Claude. »Man weiß nie, wann man mit dem Zeh auf ihn stößt. Aber heute ist er bei Lizzie Macarthur. Ich glaube, sie will ihm die Naturgeschichte Rajputanas beibringen. Ach, sie ist viel mehr als ein Kindermädchen. Sie hat in Oxford studiert und gibt eine gute Lehrerin ab. Bahadur ist ihr ergeben, und sie übt einen beruhigenden Einfluss auf seinen, äh, recht flatterhaften Charakter aus.«
»Was für ein Kontrast zu dem anderen weiblichen Einfluss in seinem Leben«, sagte Joe.
Claude grunzte zustimmend. »Das können Sie laut sagen. Seiner Mutter geht jedwede Erziehung ab, sie ist sogar Analphabetin. Das ist normal für ein Dorfmädchen, aber sie ist dennoch sehr klug. Tja, das musste sie vermutlich auch sein, wenn sie so viele Jahre lang einen so großen Einfluss auf den Herrscher ausübte. Es hätte ungeheure Auswirkungen auf sie, wenn - ich meine, sobald Bahadur sein Erbe antritt. Würde er das nicht tun, bliebe ihr gar nichts. Man könnte sagen, sie würde dann aller Ehren enthoben. Dieser Gedanke ist Ihnen sicher auch schon gekommen?«
»Allerdings. Und ich sage Ihnen noch etwas - die Hauptdarsteller in diesem Stück scheinen alle eines gemeinsam zu haben, nämlich Surigargh. Womit haben wir es hier zu tun, Sir? Eine Art Mafia-Verschwörung?«
»Oh ja, ganz genau«, stimmte Claude zu. »Familienbande, gnadenloser Ehrgeiz, Machtkämpfe, Rache ... die Sizilianer haben darauf kein Patent, wissen Sie. Und mir fallen da ein paar schottische Clans ein, die mit den Rajputen durchaus mithalten könnten«, fügte er verschmitzt hinzu.
»Mit so einer Bemerkung können Sie mich nicht aus der Reserve locken, Sir«, meinte Joe leichthin. »Ich bin ein Lowlander von den Borders. Wir verachten die >wilden Highlander.< Aber Lizzie stammt von den Macarthurs vom Ufer des Loch Awe, wenn ich nicht irre. Sie würde so etwas sehr gut verstehen!«
»Und sie würde viel auf sich nehmen, um ihr Mündel zu schützen«, räumte Claude ein. »Ihre Entschlossenheit kann zweifellos mit der der berühmten rajputischen Kindermädchen mithalten . Kennen Sie die Geschichte, Sandilands?«
Joe meinte, sich daran erinnern zu können, schüttelte aber trotzdem den Kopf. Er genoss es, Claude zuzuhören, Informationen aus ihm herauszulocken, seine Ansichten einzuschätzen und seine Bündnisse.
»In einer stürmischen Nacht«, fing Claude an und stürzte sich mit großem Gefallen in seine Erzählung, »wurde der Palast eines rajputischen Prinzen, der noch ein Baby war und in der Wiege lag, von seinem verruchten Onkel und seinem Haufen gedungener Halsabschneider überfallen. Der Onkel wollte seinen Neffen töten und den Thron für sich selbst beanspruchen. Keine ungewöhnliche Geschichte, aber der nächste Akt in diesem Drama war ungewöhnlich -sehr ungewöhnlich. Für die Amme war es eine Frage der Ehre, den Prinzen auf die einzige Art und Weise zu schützen, die ihr in dieser Lage möglich war.« Claude
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