Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
zog einen dicken Stapel Notizblätter heran, der in einer Ecke seines mit Zetteln übersäten Tischs lag, und schob ihn zu Magnus.
Der Hexenmeister nahm die Blätter und überflog sie interessiert. Jede Seite war in einer unleserlichen, krakeligen Handschrift mit Dutzenden von mathematischen Gleichungen bedeckt, die Formeln und Runen auf erstaunlich harmonische Weise kombinierten. Magnus spürte, wie sein Herz beim Lesen schneller zu schlagen begann: Diese Arbeit war genial, das Werk eines wahren Genies. Allerdings gab es ein kleines Problem. »Ich verstehe, was Sie zu erreichen versuchen«, sagte er. »Und das ist Ihnen auch fast perfekt gelungen, aber …«
»Ja, fast.« Henry fuhr sich mit den Händen durch die rötlichen Haare, sodass seine Schutzbrille verrutschte. »Das Portal lässt sich öffnen, aber nicht steuern. Deshalb weiß man nicht, ob man am gewünschten Zielort landet oder in einer anderen Welt, wenn nicht sogar in der Hölle. Das Risiko wäre einfach zu groß und deswegen ist die ganze Idee nutzlos.«
»Mit diesen Runen lässt sich das nicht machen«, konstatierte Magnus. »Sie brauchen andere, völlig andere.«
Henry schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nur die Runen aus dem Grauen Buch verwenden. Alles andere wäre Magie. Und Magie zählt nicht zu den Mitteln der Nephilim. Dieser Weg ist uns versperrt.«
Magnus musterte Henry nachdenklich. »Aber mir ist er nicht versperrt«, verkündete er und nahm den Stapel Papiere an sich.
Nachtelben schätzten das Licht nicht besonders. Deshalb hatte Sallows – dessen richtiger Name ganz anders lautete – nach seiner Rückkehr in den Laden sofort Wachspapier über die Fensterscheibe geklebt, die dieser junge Schattenjäger so rücksichtslos zerbrochen hatte. Seine Brille hatte er ebenfalls verloren, irgendwo in den Fluten des Limehouse Cut. Und offenbar würde ihm auch niemand die sehr teuren Zeitschriften bezahlen, die er für Benedict Lightwood bestellt hatte. Alles in allem ein sehr unerfreulicher Tag.
Als die Türglocke ging, schaute er gereizt auf und runzelte die Stirn. Er hatte die Tür doch fest verriegelt, oder etwa nicht? »Schon wieder zurück, Nephilim?«, fauchte er. »Willst du mich vielleicht noch mal in den Kanal werfen? Du solltest nämlich wissen, dass ich sehr mächtige Freunde habe …«
»Daran zweifle ich nicht, du Gauner.« Die große Gestalt mit einer Kapuze über dem Kopf griff hinter sich und zog die Tür fest ins Schloss. »Und ich würde nur zu gern mehr über sie erfahren.« Eine Klinge blitzte kalt im schummrigen Licht auf, woraufhin der Satyr furchterfüllt zurückwich. »Ich hätte da ein paar Fragen an dich«, fuhr der Mann an der Tür fort. »Und an deiner Stelle würde ich gar nicht erst versuchen zu fliehen – jedenfalls nicht, wenn dir deine Finger lieb sind …«
13
D ER G EIST HAT B ERGE
Oh der Geist, Geist hat Berge; Klippen des Sturzes
Kraß, jach, von keinem erlotet. Sie gering achten
Mag, wer niemals dort hing. Noch kann unsre dürftige
Dauer lang sich behaupten wider jene Steile oder Tiefe. Hier! kriech,
Elender, unter einen Trost, der ausreicht im Wirbelsturm: alles
Leben endet der Tod und jeder Tag stirbt mit Schlaf.
G ERARD M ANLEY H OPKINS , »K EIN S CHLIMMSTES , ES GIBT KEINS «
Tessa konnte sich später nicht erinnern, ob sie während ihres Sturzes geschrien hatte. Sie wusste nur noch, dass sie sehr lange in die Tiefe gefallen war und dass sie den Fluss und die Felsen rasend schnell auf sich hatte zukommen sehen, mit dem Himmel zu ihren Füßen. Der Wind zerrte an ihrem Gesicht und riss an ihren Haaren, während sie durch die Luft wirbelte … und plötzlich einen kräftigen Ruck an ihrer Kehle spürte.
Ihre Hände schnellten zu ihrem Hals, doch die Kette mit dem Klockwerk-Engel wurde über ihren Kopf gehoben, als wäre eine gigantische Hand aus dem Himmel herabgefahren, um die Kette zu entfernen. Im nächsten Moment nahm Tessa ein metallisches Schimmern wahr. Zwei gewaltige Schwingen öffneten sich wie Tore und irgendetwas fing Tessas Sturz ab und unterbrach ihr unkontrolliertes Trudeln. Verwundert riss sie die Augen auf – das war doch nicht möglich, einfach unvorstellbar –, aber ihr Engel, ihr Klockwerk-Engel hatte plötzlich menschliche Dimensionen angenommen und schwebte über ihr. Seine riesigen mechanischen Schwingen schlugen ruhig im Wind.
Tessa starrte in ein ausdrucksloses, aber wunderschönes Gesicht, wie das einer Statue aus Metall. Allerdings hatte ihr Engel nun Hände,
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