Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
Institutstreppe hinaufstiegen. Sie hatte Gideon zwar seit ihrer Ankunft in London gemocht, fand ihn aber ein wenig still und sehr zurückhaltend. Er redete kaum, und obwohl er Will manchmal bei ihrem Training aushalf, wirkte er allen gegenüber distanziert und nachdenklich – mit Ausnahme von Sophie. In ihrer Gegenwart sah man seinen wachen Geist aufblitzen. Denn er besaß einen sehr trockenen Humor und eine scharfe Beobachtungsgabe, die wunderbar zu seinem ruhigen Naturell passten.
Aus den wenigen Informationen, die Cecily den Gesprächen mit Tessa, Will und Charlotte entnommen hatte, hatte sie sich ein Bild von der Geschichte der Familie Lightwood gemacht. Und allmählich verstand sie auch, warum Gideon so still war. In gewisser Hinsicht hatte er genau wie Will und sie selbst der eigenen Familie den Rücken gekehrt und trug nun die Narben dieses Verlusts. Gabriels Entscheidung ließ sich damit nicht vergleichen: Er war bei seinem Vater geblieben und hatte den langsamen Verfall von dessen Körper und Geist miterlebt. Was war ihm dabei wohl durch den Kopf gegangen? An welchem Punkt hatte er erkannt, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte?, fragte Cecily sich.
Im nächsten Moment öffnete Gabriel die Institutstür, und als sie die Eingangshalle betraten, schallte ihnen aus dem ersten Geschoss Bridgets Stimme entgegen:
»Siehst du nicht dort den engen Pfad,
Wo Dorn und Unkraut wachsen dicht?
Das ist der Pfad der Redlichkeit,
Ob viele, traun! ihn suchen nicht.
Siehst du nicht jenen breit breiten Weg,
Durch Lilienblumen führt er hin?
Das ist der Sünden eb’ner Pfad,
Ob manche den Himmelsweg nennen ihn.«
»Sie singt«, bemerkte Cecily und erklomm die erste Stufe. »Schon wieder.«
Gabriel, der geschickt die Päckchen balancierte, schnaubte gleichmütig. »Ich sterbe vor Hunger. Ob sie mir wohl etwas Brot und kaltes Huhn gibt, wenn ich ihr sage, dass mir ihre Lieder nicht auf die Nerven gehen?«
»Ihre Lieder gehen jedem auf die Nerven.« Cecily warf Gabriel einen Seitenblick zu. Sein Bruder mochte zwar gut aussehen, aber Gabriels Gesicht hatte markante Züge, die Cecily für wesentlich eleganter hielt. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte sie unvermittelt.
»Was ist nicht meine Schuld?«
Inzwischen hatten sie die Treppe vom Erdgeschoss zum ersten Stock erklommen und gingen durch den Korridor, der Cecily recht dunkel erschien. Die Elbenlichter brannten offenbar auf kleinster Stufe. Aus der Küche drang weiterhin Bridgets Gesang zu ihnen:
»Es war dunkle Nacht und kein Stern entfacht,
Und sie tauchten in Blut bis zum Knie allfort,
Denn alles auf Erden vergossene Blut
Rinnt durch Bäch’ und Quellen im Lande dort.«
»Das mit Ihrem Vater«, erklärte Cecily.
Gabriels Kiefermuskeln spannten sich an und einen Moment lang rechnete Cecily mit einer scharfen Entgegnung. Stattdessen erwiderte er nur: »Möglicherweise war es meine Schuld, möglicherweise auch nicht. Aber ich hatte mich dafür entschieden, die Augen vor seinen Verbrechen zu verschließen. Ich habe an ihn geglaubt, als das ganz offensichtlich ein Fehler war, und er hat den Namen unserer Familie in den Schmutz gezogen.«
Cecily schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, die Nephilim seien alle Monster, die meinen Bruder entführt hatten. Ich habe fest daran geglaubt, weil meine Eltern fest daran geglaubt haben. Aber sie haben sich geirrt. Und wir sind nicht unsere Eltern, Gabriel: Wir müssen nicht die Bürde ihrer Entscheidungen oder ihrer Sünden tragen. Sie können dem Namen der Familie Lightwood wieder neuen Glanz verleihen.«
»Genau das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir«, erwiderte Gabriel bitter. »Sie haben sich freiwillig dafür entschieden hierherzukommen. Aber ich wurde aus meinem Elternhaus vertrieben – gejagt von einem Monster, das mal mein Vater war.«
»Nun ja«, bemerkte Cecily gutmütig, »aber doch nicht den ganzen Weg hierher. Nur bis Chiswick, oder?«
»Was …?«
Cecily lächelte ihn an. »Ich bin Will Herondales Schwester. Sie können nicht von mir erwarten, dass ich die ganze Zeit todernst bin.«
Das Mienenspiel, das Gabriel bei diesen Worten bot, war so komisch, dass Cecily leise lachen musste. Und sie kicherte noch immer, als Gabriel kurz darauf die Bibliothekstür aufdrückte und sie gemeinsam eintraten. Doch dann blieben beide wie angenagelt stehen.
Charlotte, Henry und Gideon saßen an einem der langen Tische. Magnus stand etwas weiter entfernt am
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