Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
sein Pferd wieder auf den Pfad dirigierte, ließ er die Kette in seine Manteltasche gleiten, wo die eingravierten Worte der Liebe und Hingabe wie ein Brandmal zu glühen schienen.
Nie zuvor hatte Charlotte sich derartig erschöpft gefühlt. Das Kind, das sie unter dem Herzen trug, kostete sie mehr Kraft als erwartet und außerdem war sie die Nacht über wach gewesen und den ganzen Tag hin und her gelaufen. Ihr Kleid trug Flecken von Henrys Labor und ihre Fußgelenke schmerzten vom unermüdlichen Klettern auf die Leiter in der Bibliothek. Doch als sie die Tür zu Jems Zimmer öffnete und sah, dass Jem nicht nur wach war, sondern sogar aufrecht im Bett saß und sich mit Sophie unterhielt, vergaß sie ihre Müdigkeit und strahlte vor Erleichterung übers ganze Gesicht. »James!«, rief sie. »Ich hatte mich schon gefragt…ich bin froh, dass du aufgewacht bist.«
Sophie, deren Wangen leicht gerötet waren, erhob sich sofort aus dem Sessel. »Möchten Sie, dass ich gehe, Mrs Branwell?«
»Oh ja, bitte, Sophie. Bridget hat wieder eine ihrer Anwandlungen; sie sagt, sie könne das Bang Mary nicht finden. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie spricht.«
Sophie hätte beinahe gelächelt – wenn ihr Herz nicht so wild geschlagen hätte, weil sie befürchtete, gerade eine schreckliche Dummheit begangen zu haben. »Das Bain-Marie«, erläuterte sie. »Ich werde es für Bridget heraussuchen.« Sie ging zur Tür, hielt einen Moment inne und warf einen schnellen Blick über die Schulter in Jems Richtung, der gegen seine Kissen lehnte und sehr bleich, aber gefasst wirkte. Bevor Charlotte noch irgendetwas sagen konnte, war Sophie jedoch schon verschwunden und Jem winkte Charlotte mit einem matten Lächeln zu sich heran.
»Charlotte, wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir bitte meine Geige bringen?«, bat er.
»Selbstverständlich.« Charlotte ging zum Fenster, wo seine Geige in ihrem Kasten aus Palisanderholz auf einem Tisch lag, zusammen mit dem Bogen und einer kleinen, runden Dose Kolofonium. Vorsichtig hob sie das Instrument aus dem Kasten und brachte es zum Bett, woraufhin Jem ihr die Geige behutsam aus den Armen nahm. Dankbar ließ Charlotte sich in den Sessel an seinem Bett sinken. »Oh …«, murmelte sie einen Moment später. »Bitte entschuldige. Ich habe den Bogen vergessen. Wolltest du etwas spielen?«
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Jem beruhigend und zupfte sanft mit den Fingern an den Saiten, was dem Instrument gedämpft singende Töne entlockte. »Das nennt man Pizzicato – das Erste, was mein Vater mir auf der Geige beigebracht hat. Es erinnert mich an meine Kindheit.«
Eigentlich bist du noch immer ein Kind, hätte Charlotte am liebsten gerufen, doch sie schwieg. Jem fehlten nur noch wenige Wochen bis zu seinem achtzehnten Geburtstag – dem Tag, an dem alle Schattenjäger volljährig wurden. Und nur weil sie in ihm noch immer den dunkelhaarigen Jungen erkennen konnte, der vor Jahren mit blassem Gesicht, großen Augen und seiner Geige unter dem Arm aus Shanghai im Institut eingetroffen war, bedeutete das nicht, dass Jem inzwischen nicht längst erwachsen war.
Schweigend nahm sie das Kästchen mit dem Yin Fen von Jems Nachttisch und klappte es auf. Nur noch eine hauchdünne Schicht Pulver bedeckte den Boden, kaum ein Teelöffel voll. Charlotte musste gegen den Kloß ankämpfen, der sich in ihrem Hals bildete; sie klopfte das Pulver in ein Glas und goss Wasser aus einer Karaffe darüber, damit sich das Yin Fen wie Zucker auflöste. Als sie Jem das Getränk reichte, stellte er die Geige beiseite, nahm das Glas entgegen und starrte mit nachdenklichem Blick in die Flüssigkeit.
»Ist das der Rest?«, fragte er.
»Magnus arbeitet an einem Heilmittel«, versicherte Charlotte ihm. »Wir alle beschäftigen uns damit. Gabriel und Cecily sind losgezogen, um Zutaten für eine Arznei zu kaufen, die dich bei Kräften hält. Und Sophie und Gideon und ich durchforsten die gesamte Bibliothek. Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Alles.«
Jem schaute Charlotte überrascht an. »Das ist mir gar nicht bewusst gewesen.«
»Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit«, sagte Charlotte. »Wir sind doch deine Familie; wir würden alles für dich tun. Bitte gib die Hoffnung nicht auf, Jem. Ich brauche dich kräftig und willensstark.«
»Meine gesamte Kraft und Willensstärke gehören dir«, erwiderte Jem kryptisch. Dann kippte er das aufgelöste Yin Fen in einem Zug hinunter und reichte ihr
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