Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
«
Charlotte hatte den Kopf über einen Brief gebeugt, als Gabriel den Salon betrat. Es war kalt im Zimmer, das Feuer im Kamin längst erloschen. Gabriel fragte sich, warum Sophie es nicht erneut entzündet hatte – vermutlich verbrachte sie zu viel Zeit mit ihrem Training. Sein Vater hätte so etwas nicht geduldet. Natürlich schätzte auch er kampferprobte Dienstboten, doch er zog es vor, dass sie ihr Training zunächst in anderen Haushalten absolvierten, ehe sie in seinen Dienst traten.
Bei seinem Eintreten schaute Charlotte auf. »Gabriel«, sagte sie freundlich.
»Sie wollten mich sprechen?« Gabriel gab sich Mühe, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Charlottes dunkle Augen durch ihn hindurchschauen konnten, so als bestünde er aus Glas. Sein Blick wanderte zu dem Schreiben auf dem Tisch. »Was ist das?«, fragte er.
Charlotte zögerte und erklärte schließlich: »Ein Brief vom Konsul.« Einen Moment presste sie die Lippen zu einem dünnen, unglücklichen Strich zusammen. Dann warf sie erneut einen Blick auf das Schreiben und seufzte. »Ich habe nie etwas anderes gewollt, als das Institut so zu führen, wie mein Vater es jahrelang getan hat. Aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass das so schwierig werden würde. Ich werde dem Konsul erneut schreiben, aber …« Sie verstummte und zwang sich zu einem matten, angestrengten Lächeln. »Aber ich habe dich nicht hierher gebeten, um nur über mich zu reden«, sagte sie. »Gabriel, du siehst sehr müde und angespannt aus. Ich weiß, wir sind alle erschüttert und erschöpft und ich … ich fürchte, dass dadurch deine … Lage möglicherweise etwas in Vergessenheit geraten ist.«
»Meine Lage?«
»Ich meine den Tod deines Vaters«, erläuterte Charlotte, erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf Gabriel zu. »Du trauerst gewiss sehr um ihn.«
»Was ist mit Gideon?«, hakte Gabriel nach. »Schließlich war er auch sein Vater.«
»Gideon hat schon vor einer Weile um deinen Vater getrauert«, erwiderte Charlotte und stand nun zu Gabriels Überraschung an seiner Seite. »Doch für dich muss der Schmerz noch neu und frisch sein. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich hätte dich vergessen.«
»Nach allem, was passiert ist…«, setzte Gabriel an. Er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete – vor Verwunderung, aber auch aus einem anderen Grund, über den er jedoch lieber nicht nachdenken wollte. »Nach allem, was mit Jem und Will und Jessamine und Tessa passiert ist, die Zahl der Mitglieder Ihres Haushalt fast halbiert wurde, da möchten Sie nicht, dass ich denke, Sie hätten mich vergessen?«
Behutsam legte Charlotte ihm eine Hand auf den Arm. »Diese Verluste machen deinen Verlust nicht weniger schwerwiegend …«
»Das können Sie nicht ernst meinen«, widersprach Gabriel. »Sie können mir keinen Trost spenden wollen. Sie fragen doch nur, um herauszufinden, ob meine Loyalität noch immer meinem Vater gilt oder dem Institut …«
»Nein, Gabriel. Daran habe ich keine Sekunde gedacht.«
»Die Antwort, die Sie zu hören wünschen, kann ich Ihnen nicht geben«, fuhr Gabriel dennoch fort. »Ich kann nicht vergessen, dass mein Vater derjenige war, der bei mir geblieben ist. Meine Mutter war gestorben…und Gideon war fort…und Tatiana ist eine nutzlose Närrin. Da war sonst niemand. Niemand, der mich großgezogen hätte. Ich hatte niemanden, nur meinen Vater. Es gab nur ihn und mich. Nur uns beide. Und jetzt erwarten Sie von mir, dass ich ihn verachte, aber das kann ich nicht. Er war mein Vater und ich …« Gabriels Stimme brach.
»Du hast ihn geliebt«, sagte Charlotte sanft. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als du noch ein kleiner Junge warst. Und ich erinnere mich an deine Mutter. Und an deinen Bruder, der immer an deiner Seite gestanden hat. Und daran, wie die Hand deines Vaters oft auf deiner Schulter lag. Falls das für dich wichtig ist, so kann ich dir versichern, auch er hat dich geliebt – davon bin ich überzeugt.«
»Nein, das ist nicht mehr wichtig. Denn ich habe meinen Vater getötet«, entgegnete Gabriel mit zitternder Stimme. »Ich habe ihm einen Pfeil durchs Auge geschossen, sein Blut vergossen … Vatermord begangen …«
»Das war kein Vatermord, Gabriel. Er war nicht mehr dein Vater.«
»Wenn er nicht mein Vater war … wenn ich meinem Vater nicht das Leben genommen habe, wo ist er denn dann?«, flüsterte Gabriel. »Wo ist mein Vater?« Und dann spürte
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