Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
Mortmain hat die Haut eines Nephilim verwendet. Was dann?, flüsterte eine Stimme tief in Wills Innerem. Was würde er damit erschaffen können? Wie verrückt ist er und wo wird er aufhören? Bei diesem Gedanken und dem Anblick der himmlischen Runen auf einer solch grässlichen Kreatur drehte sich Will der Magen um. Er wirbelte herum, fort vom Rand des Felsvorsprungs, und taumelte zurück, bis er gegen eine kalte Gesteinswand prallte und sich mit schweißfeuchten Händen daran festhielt.
Vor seinem inneren Auge sah er erneut das Dorf, die Leichen in den Straßen, und hörte im Geiste wieder die Worte des mechanisch zischenden Klockwerk-Dämons:
All die Jahre habt ihr uns mit euren runengezeichneten Waffen aus dieser Welt vertrieben. Doch nun besitzen wir Körper, gegen die eure Waffen nichts ausrichten – und diese Welt wird bald uns allein gehören.
Heiße Wut flammte in Will auf und strömte wie flüssiges Feuer durch seine Adern. Er drückte sich von der Felswand ab und stürmte blindlings in einen schmalen Tunnel, fort von der riesigen Höhle mit den Automaten. Plötzlich glaubte er, hinter sich ein Geräusch zu hören – ein Sirren, so als würde sich der Mechanismus einer gewaltigen Uhr in Gang setzen. Doch als er sich umdrehte, konnte er außer glatten Felswänden und reglosen Schatten nichts erkennen.
Der Tunnel, dessen Verlauf er nun folgte, wurde mit jedem Meter enger, bis Will sich schließlich nur noch seitwärts an herausragendem Quarzgestein vorbeischieben konnte. Er wusste: Wenn dieser Weg noch schmaler würde, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu der großen Höhle zurückzukehren. Der Gedanke daran gab ihm neue Energie. Er drückte sich weiter an der Wand entlang … und taumelte plötzlich vorwärts, als der Tunnel sich unvermittelt zu einem breiten Gang öffnete.
Der Gang erinnerte ihn ein bisschen an die Korridore im Institut; allerdings war er aus glattem Gestein gehauen und von Fackeln beleuchtet, die in regelmäßigen Abständen in Metallhalterungen an den Wänden hingen. Neben jeder Fackel befand sich eine bogenförmige Gewölbetür, ebenfalls aus Stein. Die ersten beiden Türen standen offen und gaben den Blick in leere dunkle Räume frei.
Hinter der dritten Tür war Tessa.
Will sah sie nicht sofort, als er den Raum betrat. Die Steintür schwang hinter ihm fast vollständig zu, doch er stellte fest, dass er nicht in völlige Dunkelheit getaucht wurde. Am hinteren Ende des Raums flackerte ein Licht – der Schein eines heruntergebrannten Kaminfeuers. Zu Wills Verwunderung war der Raum wie ein Gästezimmer in einem Wirtshaus möbliert: ein Bett und ein Waschtisch, Teppiche auf dem Boden, sogar Vorhänge an den Wänden, die jedoch vor nacktem Gestein hingen statt vor Fenstern.
Direkt vor dem Feuer kauerte ein schmächtiger Schatten auf den Steinplatten. Automatisch griff Wills Hand zum Heft seines Dolchs an der Hüfte – doch dann drehte sich die Gestalt um, das Haar fiel ihr über die Schulter, und Will sah ihr Gesicht.
Tessa.
Seine Hand gab den Dolch frei, während sein Herz in der Brust einen unglaublichen, fast schmerzhaften Satz machte. Er sah, wie sich ihre Miene änderte: Neugier, dann Überraschung und schließlich Fassungslosigkeit spiegelten sich auf ihrem Gesicht.
Sie erhob sich und ihre Röcke raschelten um sie herum, als sie sich aufrichtete. Dann streckte sie ihm die Hand entgegen. »Will?«, fragte sie.
Ihre Stimme wirkte wie ein Schlüssel in einem Türschloss und löste ihn aus seiner Erstarrung: Will setzte sich in Bewegung. Nie war ihm der Abstand zwischen Tessa und ihm größer erschienen als in diesem Augenblick. Die Entfernung zwischen London und Cadair war nichts im Vergleich zu dieser Distanz. Doch als er den Raum durchquerte, verspürte er ein Beben, wie eine Art Luftwiderstand. Er sah, wie Tessa eine Hand hob, wie ihre Lippen Worte formten … und dann lag sie in seinen Armen und die Wucht des Aufpralls raubte beiden den Atem.
Tessa stand auf den Zehenspitzen, die Arme um seinen Hals geschlungen, und flüsterte seinen Namen: »Will, Will, Will …«
Er begrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, in ihrem lockigen Haar, das nach Rauch und Veilchenwasser duftete. Und dann drückte er sie noch fester an sich, während ihre Finger sich in seinen Kragen krallten. Atemlos klammerten sie sich aneinander. Und in diesem Augenblick ließ der Kummer, der ihm seit Jems Tod wie eine eiserne Faust die Luft abgeschnürt hatte, einen Moment lang nach und er konnte
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